Ob zu Außenpolitik, über Frauenrechte, zur deutschen Geschichte oder über den menschlichen Körper: Wir präsentieren die zehn besten Sachbücher 2025 – originelle Ansätze, fundamentale Fragen, tiefgehend recherchiert, bestens geschrieben.
Diese Bücher stillen die eigene Neugierde, wappnen für die Debatten der Zukunft ebenso wie für den nächsten Party-Talk. Ausgewählt von der Sachbuchredaktion von Deutschlandfunk und Deutschlandfunk Kultur.
Thomas Wagner erzählt anhand der Doppelbiografie der beiden Intellektuellen Arnold Gehlen und Theodor W. Adorno, wie aus der zunächst wenig relevanten Soziologie das wohl wichtigste Einzelfach in der jungen Bundesrepublik wurde.
Die persönliche Schnittmenge zweier Intellektueller weitet er dabei zu einer sorgfältig recherchierten Erzählung darüber aus, wie sich die Soziologie überhaupt als eigenständige Disziplin etablieren konnte – und wie sie schließlich zur wichtigsten Wissenschaft für die Selbstverständigung der Republik wurde.
Besonders die Protagonisten der Frankfurter Schule – eigentlich die Vorzeige-Antifaschistischen, die dabei halfen, die neue Bundesrepublik „an den Mann“ zu bringen – erscheinen bei Wagner als Pragmatiker, die sich mit ehemaligen Nationalsozialisten wie Gehlen nicht nur auseinandersetzten, sondern teilweise sogar anfreundeten.
Wer sich für den rechten Leuchtturm Gehlen, den linken Leuchtturm Adorno oder die forschungspolitischen Kämpfe in der jungen Bundesrepublik interessiert, der kommt in diesem Buch zweifellos voll auf seine Kosten. (nbs)
Thomas Wagner: „Abenteuer der Moderne. Die großen Jahre der Soziologie 1949-1969“
Klett-Cotta 2025, 336 Seiten, 28 Euro
Der Traum vom großen Geld ist vermutlich älter als die ersten gestanzten Silbertaler. Dass er auch das physische Geld überleben wird, zeigt Juan S. Guse in seinem Buch. Darin erzählt er die Geschichten von vier Männern, die mithilfe von Kryptowährungen zu Millionären geworden sind. Das Besondere: Sie alle haben sich entschieden, ihr Leben nicht groß zu ändern.
Basti, Arne, Malte und Sebastian leben noch immer in Wohngemeinschaften und arbeiten für einen Durchschnittslohn als Friedhofsgärtner. Und das, obwohl sie sich mit dem Geld in ihren „Wallets“ sowohl den Friedhof als auch das gesamte Wohnhaus problemlos leisten könnten.
Im Stil des New Journalism lässt Guse sich voll und ganz auf die Welt dieser Männer ein. Am Ende möchte man selbst in LINK oder OHM investieren und wähnt sich, wie die Protagonisten, klüger zu sein als alle anderen. Da bei der Lektüre selbst nicht immer unterschieden werden kann, was wahr und was fiktiv ist, wird das Überlegenheitsgefühl mancher Leser jedoch durch dieses geniale Buch immer wieder unterlaufen. (nbs)
Juan S. Guse: „Tausendmal so viel Geld wie jetzt“
S. Fischer 2025, 192 Seiten, 23 Euro
Mehr als acht Milliarden Menschen leben auf der Erde. Bis zum Jahr 2100 sollen es nach Schätzungen mehr als zehn Milliarden sein. Dann allerdings – so wird erwartet – wird die Zahl wieder sinken. So ist das mit Aufstiegen, sie sind endlich.
Jede Spezies existiert nur innerhalb einer bestimmten Zeit. Diese Endlichkeit gilt natürlich auch für den Homo Sapiens, das führt der britische Evolutionsbiologe Henry Gee vor Augen in seinem Buch „Aufstieg und Fall der Menschheit“.
Schon jetzt verzeichnen viele Länder mehr Sterbefälle als Geburten, in Deutschland macht man sich deshalb schon lange Sorgen um das Rentensystem und verzeichnet einen Fachkräftemangel. Das ist aber für Gee nur der überschaubare Anfang einer Entwicklung, nämlich des langsamen, aber sicheren Aussterbens: „Was auch immer der Grund sein wird, ich werde argumentieren, dass Homo sapiens relativ bald verschwinden wird, jedenfalls geologisch gesehen – nämlich im Lauf der nächsten 10.000 Jahre.“ (stö)
Henry Gee: „Aufstieg und Fall der Menschheit. Warum unsere Spezies am Rand des Aussterbens steht“
Übersetzung: Monika Niehaus und Coralie Wink
Rowohlt 2025, 288 Seiten, 24 Euro
Kaum ein historischer Gegenstand scheint so detailliert erforscht wie der Nationalsozialismus. Doch über die Detailfragen, schreibt der Historiker Götz Aly, gerate die „zentrale Frage aller deutschen Fragen“ in den Hintergrund: „Wie konnte das geschehen?“ Eine Antwort sucht Aly bei den Durchschnittsdeutschen.
Viele waren nicht unbedingt einverstanden, aber sie waren zu leise, zu harmlos, zu ängstlich, zu gierig, zu korrumpiert, um Hitlerdeutschland zu verhindern. Diese stille Zustimmung, meint Aly, ließen sich viele durch materiellen Aufstieg abkaufen. Um den wiederum zu finanzieren, begann die „blutigste Konkursverschleppung der Weltgeschichte“. Dass zudem die Deportationen und Morde ganz offen stattfanden, habe alle in eine „unentrinnbare Wir-Gemeinschaft“ verstrickt. Die „Kollektivschuld“, so wird sehr deutlich, wurde von Goebbels propagiert: Im Falle einer deutschen Niederlage werde der Feind keinen Unterschied machen. (rbh)
Ganz unvermeidlich flackert beim Lesen die Gegenwart immer wieder auf. Nicht in direkten Parallelen, aber in Mechanismen: die Verlustängste und Aufstiegsversprechen, der vorauseilende Gehorsam, die in aller Öffentlichkeit zelebrierte Grausamkeit. Auch deshalb ist Götz Alys Alterswerk unbedingt lesenswert. (rbh)
Götz Aly: „Wie konnte das geschehen? Deutschland 1933 bis 1945“
S. Fischer 2025, 768 Seiten, 34 Euro
Giulia Enders hat den Sachbuchmarkt revolutioniert. 2014 erschien ihr Buch „Darm mit Charme“ und machte Medizin nahbar: locker, anschaulich und selbstermächtigend. Ein echter Verkaufs- und Exporthit.
Gut elf Jahre später legt die Ärztin nach. In „Organisch“ erkundet Enders erneut den menschlichen Körper. Überraschend anders. Denn sie schaut nicht nur auf ein einzelnes Organ, sondern auf die Lunge, das Immunsystem, die Haut, die Muskeln und das Gehirn.
Ihr neues Buch ist eine Hymne ans Leben – und ein großer Lesegenuss. Denn Giulia Enders erzählt, sprachlich poetisch schön, fernab aller Metapher, vom Körper als Maschine, reich an neuester Forschung und oft übersehenen Abläufe der Biologie. Dabei entfaltet die Medizinerin eine faszinierende neue Sichtweise: Organe und Stoffwechselwege werden zu klugen Lehrmeistern für ein gelingendes Leben.
Nur wer seinen Körper kennt, der kann sich kümmern und verantwortungsvoll handeln. Giulia Enders ermutigt genau dazu. Ohne moralinsauer zu werden, sondern lustvoll, charmant und klug. Ein tolles Buch! (kim)
Giulia Enders: „Organisch. Was es wirklich bedeutet, auf unseren Körper zu hören“
Ullstein 2025, 352 Seiten, 24,99 Euro
„Geliebtes Kabul“ ist für mich das beste Buch des Herbstes. Es macht deutlich, wie schnell Normalität kippt, wie patriarchale Strukturen gewaltsam durchgesetzt werden, wie obrigkeitshörig eine Gesellschaft bereit ist, sich Gewalt und Schrecken unterzuordnen. Dieses Buch ist ein fast 400 Seiten dickes Protokoll des alltäglichen Lebens, des Abschieds von Normalität – geschrieben von 21 Frauen, beginnend mit der Machtübernahme durch die Taliban.
Geschrieben in WhatsApp-Chatnachrichten ist ein in Echtzeit verfasstes Tagebuch entstanden. Und egal, welche Stelle man aufschlägt, sie nimmt gefangen, macht fassungslos. Der Schmerz, die Wut und der Kampf sind so unmittelbar spürbar, dass dieses Buch einen ungemeinen Sog entwickelt.
Die Frauen berichten von Isolation, von Protesten, von ihren Fluchtplänen – und wenn die gelang, von ihrer Einsamkeit im fremden Land, in dem sie zwar sicher, aber vor Sorge um die Angehörigen gelähmt sind. Die Autorinnen, schreiben die Herausgeberinnen im Vorwort, bitten nicht um Rettung, sondern darum, gesehen zu werden. Allein das macht fassungslos. Und doch ist es ein Weckruf, an uns alle, vor allem an Frauen. „Geliebtes Kabul“ ist ein absolutes Lese-Muss! (kim)
Untold Narratives: „Geliebtes Kabul. Das Tagebuch einer Frauenschreibgruppe während der Machtübernahme der Taliban“
Übersetzung: Nicola T. Stuart, Verlagshaus Jacoby & Stuart 2025, 400 Seiten, 26 Euro
Unter Lebensgefahr hat die philippinische Investigativ-Reporterin Patricia Evangelista das Morden während der Präsidentschaft Rodrigo Dutertes aufgezeichnet: Der hatte sich gebrüstet, Drogenhändler persönlich erschossen zu haben, und schuf ein Klima der Straffreiheit für alle, die es ihm gleichtun wollten. Polizisten, Nachbarn, vermummte Gangs erschossen Drogenhändler und Drogenabhängige, bald auch Angehörige, Journalisten, Menschenrechtsanwälte. Evangelista fuhr an die Tatorte, publizierte ihren Bericht, und wartete auf den nächsten Mord. Warten musste ich nie lange, schreibt die Reporterin.
Die Summe ihrer täglichen Berichterstattung ist nun als Buch erschienen, das weit mehr ist als die Chronik eines Kriegs gegen die Drogen, der aus dem Ruder lief. Evangelista beschreibt die Zerbrechlichkeit von Zivilität und Rechtsstaatlichkeit. Sie analysiert eine sprachliche Verrohung, die das Schrecklichste aus Menschen hervorzuholen vermag. Sie tut das behutsam und eindrücklich. Glänzend übersetzt von Zoë Beck.
Die Philippinen mögen weit weg sein, Duterte selbst ist inzwischen nach Den Haag ausgeliefert. Die Sprache und die Mechanismen, die das Morden begünstigten, sind aber universal – und seither an eher mehr Orten dieser Welt zu beobachten als früher. Es gibt nicht viele Bücher, die heute so wichtig sind. (rbh)
Patricia Evangelista: „Some People Need Killing. Eine Geschichte der Morde in meinem Land“
Aus dem philippinischen Englisch von Zoë Beck
CulturBooks, Berlin 2025, 368 Seiten, 26 Euro
Die Philosophin Manon Garcia hat für dieses Buch den Prozess um Gisèle Pelicot begleitet, die jahrelang von ihrem Ehemann betäubt und von mehr als 80 Fremden vergewaltigt wurde. Entstanden ist eine Mischung aus Prozessbeobachtung, theoretischer Reflexion und persönlichen Bekenntnissen.
Garcia macht einerseits den Schrecken der Taten plastisch, schafft es aber auch, die erschreckende Banalität der Täter sichtbar zu machen. Sie fragt entgegen eingeübten feministischen Argumenten, wie das Strafrecht helfen soll, wenn man offenbar jederzeit im Umkreis weniger Kilometer eine „riesige Anzahl Männer“ findet, die bereit ist, eine bewusstlose Frau zu vergewaltigen?
Garcia flüchtet sich nicht in theoretische Höhenflüge. Stattdessen gesteht sie etwa ein, dass sie sich nach den Prozesstagen trotz allem nur zu Hause bei ihrem Mann sicher fühlte. Ihre Ehrlichkeit verhindert, dass die Spannung, die angesichts ihrer Beobachtungen über dem Zusammenleben der Geschlechter liegt, vorschnell in eine Richtung aufgelöst wird.
Wer das Buch liest, kommt trotzdem nicht umhin, sich Gedanken über sein Begehren zu machen – vor allem über das „Trümmerfeld, das die männliche Sexualität darstellt“, wie Garcia schreibt. (nbs)
Manon Garcia: „Mit Männern leben. Überlegungen zum Pelicot-Prozess“
Übersetzung: Andrea Hemminger
Suhrkamp 2025, 195 Seiten, 20 Euro
Die Massaker der Hamas am 7. Oktober 2023 bilden den Ausgangspunkt dieses analytischen Reportagebuchs. Natalie Amiri nimmt von dort aus die ganze krisengeplagte Region in den Blick, denn hier hat jedes scheinbar noch so isolierte Ereignis multiple Folgen auch für andere Länder. Wie in einem Schachspiel, so beschreibt es Amiri, bei dem die Figuren sich gleichzeitig auf mehrere Brettern bewegen.
Amiri, Journalistin des ARD-Weltspiegel, ist im Iran geboren und hat in Bamberg, Teheran und Damaskus Orientalistik und Islamwissenschaften studiert. In Reportagen und Porträts erzählt sie von persönlichen Begegnungen vor Ort, unterfüttert die Länder-Kapitel mit Hintergrund-Informationen, legt ihre Recherchewege und ihre Zweifel offen, lässt die einzelnen Inhalte jeweils von ortskundigen Experten prüfen. Das ist in dieser Form ein seltenes Buch.
Den Konflikt in Nahost teilt Amiri nicht in klare Lager ein, jeder habe für sich ein bisschen recht. Ihre Hoffnung setzt sie darauf, dass mehr Verständnis dafür wachsen möge, dass die Länder und Menschen mehr verbinde als trenne. Zuvorderst: der gemeinsame Wunsch nach Sicherheit, Frieden und Würde. (rbh)
Natalie Amiri: „Der Nahost-Komplex. Von Menschen, Träumen und Zerstörung“
Penguin 2025, 256 Seiten, 24 Euro
An welcher Stelle ist Russland in den 90er-Jahren falsch abgebogen? Wie konnte die Perestroika nach gut zehn Jahren wieder in eine Diktatur münden? Dem geht die mittlerweile im Exil lebende russische Historikerin und Publizistin Irina Scherbakowa nach und hat dabei natürlich auch die Arbeit der Menschenrechtsorganisation Memorial im Blick, für die sie tätig war.
Denn deren Aufgabe war es, den Terror Stalins, die Grauen des Gulag-Systems aufzuarbeiten und den Betroffenen von Repression und Folter eine Stimme zu geben. Doch mit der politischen Wende, die Präsident Putin durchgesetzt hat, sind die Verbrechen des Stalinismus wieder ein Tabu. Memorial kann in Russland nicht mehr arbeiten.
Scherbakowa benennt Parallelen zwischen den Regimen Stalin und Putin: „Parallelen bestehen ja auf eine sehr tragische Weise. Wir waren in den Biographien von Menschen immer wieder mit den Folgen von dem erlebten Massenterror konfrontiert. Und das war Angst, unglaubliche Angst. Dann die Atomisierung der Gesellschaft, Misstrauen, dass die Menschen sich damit abfinden, dass der Staat immer seine Gewalt ausüben kann, und der Mensch kann nichts dagegen tun. Diese Reaktionen kann man leider vergleichen.“ (stö)
Irina Scherbakowa: „Der Schlüssel würde noch passen. Moskauer Erinnerungen“
Übersetzung: Jennie Seitz und Ruth Altenhofer
Droemer 2025, 318 Seiten, 25 Euro