Giulia Enders: "Organisch"

Empathischer Blick auf den Körper

05:31 Minuten
Cover des Buchs "Organisch" von Giulia Enders.
© Ullstein

Giulia Enders

OrganischUllstein, Berlin 2025

336 Seiten

24,99 Euro

Von Susanne Billig |
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Der medizinisch bestens erkundete menschliche Körper lässt sich auch heute noch überraschend neu betrachten. Giulia Enders beschreibt ihn in ihrem neuen Buch nicht als effiziente Maschine, sondern als weiser Lehrmeister für ein gelingendes Leben.
Die Lunge ist ein Wunderwerk der Natur und sie zeigt die Kraft der „stillen Macht des Weichen“: Wer den Atem verlangsamt und vertieft, kann Blutdruck und Stress senken. In einer Welt, die oft Tempo und Härte feiert, erinnert Giulia Enders in ihrem neuen Buch „Organisch“ daran, dass wahre Stärke in Ruhe, Kooperation und Veränderungsbereitschaft liegt.

Die biologischen Fähigkeiten des Körpers

Nur auf den ersten Blick wirkt das Buch, das sich in fünf Kapiteln mit Lunge, Immunsystem, Haut, Muskeln und Gehirn befasst, wie eine weitere populärwissenschaftliche Abhandlung über den menschlichen Körper. Doch beim Lesen stellt man schnell fest, Giulia Enders erzählt, gewohnt munter, von medizinischen Neuigkeiten und der neuesten Forschung.
Vor allem aber blickt sie – sprachlich immer wieder mit einer überzeugenden poetischen Note – so empathisch auf die biologischen Fähigkeiten des Körpers, dass sich eine faszinierende neue Sichtweise entfaltet. Organe und Stoffwechselwege erweisen sich darin als kluge Lehrmeister für ein gelingendes Leben.

Kooperation und Selbstkenntnis

Bewusst bricht die Wissenschaftskommunikatorin und Ärztin mit allen Maschinenmetaphern. Statt das Immunsystem als kämpfende Armee zu beschreiben, sieht sie darin ein komplexes System, das auf Kooperation und Selbstkenntnis setzt.
Immunzellen arbeiten nicht nur mit wohlwollenden Mikroorganismen intensiv zusammen, sie sind auch bereit, Schädlinge in gewissen Grenzen zu tolerieren, wenn das dem friedlichen Zusammenleben dient. So dürfen Herpesviren lange im Körper schlummern, ohne attackiert zu werden.
Die Haut ist für Giulia Enders nicht in erster Linie „Barriere“. Lieber denkt sie über die zunehmend digitale Welt nach, in der Menschen den Kontakt zu ihrem Körper verlieren. Verloren geht dabei das Wissen um die Macht der Berührung, ob durch andere oder in einer Selbstumarmung. Sie kann uns aus Sorgenschleifen holen, indem sie uns mit dem gegenwärtigen Moment verbindet.

Die leisen Wege der Biologie

Immer wieder richtet die Medizinerin ihre Aufmerksamkeit auf leise, oft übersehene Abläufe der Biologie. Bei der Haut ist es die Wundheilung. Oft unbemerkt, lässt sich darin doch ein starkes Symbol für Resilienz sehen – der Fähigkeit, aus Rückschlägen gestärkt hervorzugehen.
Bei den Muskeln wäre die Entspannung als passives „Nichtstun“ grob missverstanden, denn erst Phasen der Regeneration machen nachhaltige Leistung möglich. Im Gehirn-Kapitel geht die Autorin ausführlich auf den Schlaf ein und erzählt von der „gliamphatischen Auswaschung“, einem relativ jungen Bereich der Hirnforschung, der sich mit Reinigungsprozessen im Tiefschlaf beschäftigt.

Leben in Abhängigkeiten

Die Vision dieses Buches geht weit über den menschlichen Körper hinaus, wenn Giulia Enders dazu inspiriert, die organischen Prinzipien des Lebens auf das gesellschaftliche Zusammenleben zu übertragen. Wir sind keine Maschinen, betont sie, sondern organische Wesen, die nur mit Ruhe und Kooperation aufblühen. Vernetzt zu leben, bedeutet in Abhängigkeiten zu leben – erst wer dieses Prinzip begreift, versteht, wie ein friedliches Zusammenleben miteinander und mit der Natur gelingen kann.
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