Götz Aly: "Wie konnte das geschehen?"

Als ganz normale Deutsche zu Mördern wurden

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Cover des Buchs "Wie konnte das geschehen?" von Götz Aly.
© S. Fischer Verlag

Götz Aly

Wie konnte das geschehen? Deutschland 1933 bis 1945S. Fischer Verlag, Frankfurt/Main 2025

768 Seiten

34,00 Euro

Von Otto Langels |
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Warum begeisterten sich so viele Deutsche für Adolf Hitler und beteiligten sich an einem beispiellosen Vernichtungskrieg und Massenmord? Der Historiker Götz Aly sucht nach einer schlüssigen Erklärung, die umfangreich und differenziert ausfällt.
Wie konnte es gelingen, ein ganzes Volk, das vorher nicht überdurchschnittlich kriminell war, in die Menschheitsverbrechen des NS-Regimes hineinzuziehen? Die Erklärungsversuche von Historikern füllen Bibliotheken - und können meist doch keine erschöpfenden Antworten liefern. Der renommierte Berliner Journalist und Historiker Götz Aly, bekannt geworden durch eine Vielzahl von Veröffentlichungen zum Nationalsozialismus, legt nun einen weiteren Band zu dieser Frage vor. Dass sein Buch über 700 Seiten umfasst, gilt einmal mehr als Beleg dafür, dass es keine einfachen Antworten gibt.

Bestechung und Unterdrückung

Aly beschreibt ausführlich ein Bündel von Maßnahmen und Methoden, mit denen die NS-Führung die Deutschen gleichermaßen bestach und unterdrückte: "Vor allem mache ich das sehr ausführlich für die gewerkschaftlich organisierte Arbeiterschaft, wie die Gewerkschaft überführt wurde ins Dritte Reich und wie angenehm sie zum großen Teil mitgemacht haben", sagt er.
"Dann zeige ich aber auch, wie Widerstand präventiv gebrochen wurde, zum Beispiel im Fall der katholischen Kirche durch ganz organisierte Missbrauchsprozesse. Und dann eben die Bestechung des Volkes mit Erfolgen, die auf Schuldenfinanzierung beruhen, mit einem schnellen Blitzkrieg und dann mit dem Beginn unendlicher Verbrechen, in die die Bevölkerung langsam hineingezogen wurde.“
Das NS-Regime erkaufte sich die Zustimmung breiter Bevölkerungsschichten durch Wohltaten wie massive Rentenerhöhungen, bezahlten Urlaub und den Schutz vor Pfändungen und Zwangsräumungen sowie mit „Kraft durch Freude“, der Organisation, die erschwingliche Schiffsreisen nach Norwegen oder zu den Kanarischen Inseln bot.
„Die NS-Regierung schuf eine Atmosphäre, die nach den entbehrungsreichen Krisenjahren in der großen Mehrheit neue Lebensfreude weckte, mit der sich viele Deutsche gut gelaunt in eine keineswegs wohlige Zukunft wirbeln ließen", schreibt Aly. "Die sich selbst beschleunigende Rutschpartie auf der schiefen Ebene gesellschaftlicher Atomisierung und moralischer Haltlosigkeit hatte begonnen.“

Auch Musiker wurden zu Massenmördern

Die Aussage von der gesellschaftlichen Atomisierung Nazi-Deutschlands ist allerdings widersprüchlich. Denn Götz Aly widmet große Teile seiner weit ausholenden Darstellung der These, dass es nicht eine kleine Clique fanatischer Nationalsozialisten war, die Deutschland in den Abgrund riss, sondern dass „die Deutschen“ daran beteiligt waren:
"Die Menschheitsverbrechen der Hitler-Jahre begingen Deutsche, die in der Regel weder vorher noch nachher kriminell handelten. Menschen auch, die sich intellektuell und moralisch kaum von uns Heutigen unterscheiden. Sie stammten aus allen Schichten der Bevölkerung. Gut ausgebildete Musiker und Juristen wurden ebenso zu Massenmördern wie Polizisten, Büroangestellte, Bauern, Fach- oder Hilfsarbeiter.“
Dies ist alles nicht neu und in zahlreichen Studien von Christopher Browning über Ian Kershaw bis zu Harald Welzer hinlänglich belegt. Götz Alys Verdienst ist es, die unterschiedlichen Aspekte in einer verständlich geschriebenen Gesamtschau zu beleuchten – gewissermaßen auch als Summe seiner vorherigen umfangreichen Publikationen zum Nationalsozialismus.
Dabei schenkt der Autor den Wohltaten und Verführungsmechanismen mehr Aufmerksamkeit als dem Terror des NS-Regimes. Die Kehrseite der „Kraft durch Freude“, die die Nazi-Propaganda verbreitete, war das, was Aly als „Kraft durch Furcht“ bezeichnet: „Die deutsche Bevölkerung hat sich daran gewöhnen lassen, an Mord und Totschlag, 1934 mit dem sogenannten Röhm-Putsch", sagt der Historiker.
"Dann die Zwangssterilisierungen, die dazu geführt haben, dass fünf Prozent der Frauen, das waren ungefähr 10.000, bei diesem Eingriff starben. Dann beginnt das mit den Euthanasie-Morden, das sind Morde von Deutschen an Deutschen. Der Widerstand war viel, viel geringer, als diejenigen, die es organisiert hatten, erwartet haben. Es lief wie geschmiert.“
Es lief so lange wie geschmiert, wie die Deutschen von den Plünderungen und Raubzügen profitierten: erst von der Ausgrenzung der Juden im Inland, dann von der Ausbeutung der eroberten Gebiete im Zweiten Weltkrieg. Ohne diese „hochkriminell durchorganisierte, blutigste Konkursverschleppung der Weltgeschichte“, dies weist Götz Aly überzeugend nach, wären die großzügigen sozialpolitischen Geschenke fürs Volk gar nicht möglich gewesen.

Profiteure, Mitwisser und Mittäter

„Hitler sprach im Mai 1939 dezidiert vom nunmehr notwendigen ‚Rückgriff auf fremdes Eigentum‘, ohne den kein Fortschritt mehr zu erzielen sei", schreibt Aly. "Solange alles gutzugehen schien, interessierte sich die große Mehrheit der Bevölkerung nicht für die Herkunft des Geldes.“
Warum gab es nicht mehr Proteste und Widerstand gegen das NS-Regime? Götz Alys Erklärung: Es gelang der Führung, ein ganzes Volk zu Profiteuren, Mitwissern und Mittätern der Verbrechen und Massenmorde zu machen und eine „unentrinnbare Wir-Atmosphäre“ herzustellen. Doch dem widerspricht, dass die Nazis die Vernichtungslager jenseits der Reichsgrenzen errichteten und ein verschleierndes Vokabular verwendeten. Die Führung war sich der Zustimmung des Volkes nicht immer sicher.
An manchen Stellen verlässt Götz Aly den historischen Rahmen der Jahre 1933 bis 1945 und weist auf Herrschaftsmechanismen hin, die immer noch oder wieder im Gebrauch seien: „Die Manipulation von Informationen, die Zerstörung öffentlicher Räume, die Politik ungedeckter Staatsschulden, soziale Geschenke an die Massen bei zunehmend autoritärer Staatsführung, das Entfachen von Vorurteilen und Hass gegen geeignete und klar erkennbare Minderheiten.“
Insofern ist Götz Alys profunde Analyse nicht nur ein wichtiger Beitrag zur NS-Zeit, sondern liefert gleichzeitig Hintergrundwissen zu heutigen illiberalen Regimen.
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