Katerina Poladjan: "Goldstrand"
© S. Fischer
Eine Geschichte über Zeiten und Länder hinweg

Katerina Poladjan
GoldstrandS. Fischer, Frankfurt am Main 2025159 Seiten
22,00 Euro
Katerina Poladjan unternimmt mit ihren Figuren eine Reise durch die vergangenen einhundert Jahre und durch halb Europa. Und am Ende bleibt die Frage: Europa, was ist das überhaupt?
Ein Auftakt, der es in sich hat: Ein Passagierdampfer ist im Jahr 1922 unterwegs von Odessa nach Konstantinopel. Lew ist mit seinen beiden Kindern Felix und Vera an Bord, doch die Reise endet in einer Katastrophe, als die 22-jährige Vera, so scheint es zumindest, ins Wasser springt und Selbstmord begeht. Dass die Leiche unauffindbar bleibt, lässt Lew keine Ruhe. Er untersucht die Strömungswege, in der Hoffnung so herauszufinden, wo seine Tochter angeschwemmt worden sein könnte. Er, der einstige Philosophiedozent, lebt fortan mit seinem Sohn in einer Strandhütte im bulgarischen Warna und versucht sich als Korbmacher durchzuschlagen, während er seinen Sohn unterrichtet. Veras Spur will sich jedoch auch dort nicht finden.
Die Dottoressa und der Filmemacher
Die vor Kurzem mit dem Großen Preis des Deutschen Literaturfonds ausgezeichnete Katerina Poladjan, die seit jeher eine Meisterin des verknappten, andeutungsreichen Erzählens ist, verharrt nicht in dieser anfangs abgesteckten Chronologie. Gewiss, wir erfahren, dass Felix 1942, also 20 Jahre später, als die Rote Armee Bulgarien noch verschont, sein Studium bravourös abschließt und nach dem Krieg Anstellung in einem Architektur- und Stadtplanungsinstitut in Sofia findet. Große Zukunftspläne reifen dort heran. Wo Felix einst mit seinem Vater heranwuchs, am „Goldstrand“ an der Schwarzmeerküste, soll – so heißt es im Buch – ein Musterbeispiel sozialistischer Erholungsarchitektur entstehen, brutalistische Getüme, von denen Jahrzehnte später nichts mehr zu sehen sein wird.
Felix’ Geschichte wird auf raffinierte Weise eingebunden in ein ganz anderes, in Rom verankertes Szenario. Dort nämlich legt sich der rund 60-jährige Filmregisseur Eli auf die Couch einer Psychotherapeutin. In vierzig langen Sitzungen soll die Dottoressa Licht in das Dunkel seiner Seele bringen. Seine Karriere, die er als Komparse in einem Film des italienischen Regisseurs Ettore Scola begann, hat ihren Zenit längst überschritten. In einem von Elis Filmen ging es um seine Tante, um jene Vera, die 1922 in Odessa mutmaßlich den Tod fand.
Herkömmlich intakte familiäre Strukturen gibt es in diesem Roman nicht, so wie die Menschen von der Geschichte hin und her geworfen werden und keinen dauerhaften Halt finden. Irgendwann wird Eli von seiner Frau Jenny verlassen; die gemeinsame Tochter, die auch Vera heißt, lebt in Oranienburg und macht Führungen in der Gedenkstätte Sachsenhausen. Wer Elis Vater war, bleibt lange ein Geheimnis. Für seine Mutter Francesca ist der Erzeuger, ein bulgarischer Kommunist, mit dem sie Anfang der 1960er-Jahre am Goldstrand zusammenkam, ein abgeschlossenes Kapitel: „Ich wollte fort von alldem und traf auf deinen Vater. Er gefiel mir. Ich wusste nicht, dass ich schwanger werden würde, aber ich wusste, dass ich diesen Bulgaren nie wiedersehen würde. Basta.“
Kein Wort, kein Satz zu viel
Von alldem erzählt Katerina Poladjan, ohne sich zu Kommentaren und Erklärungen hinreißen zu lassen. In einem manchmal fast ins Magische changierenden Ton springt sie zwischen den Ereignissen und den Erinnerungen an diese Ereignisse hin und her. Was es – vor allem mit (dem) Blick auf Osteuropa – für die Romanfiguren im 20. Jahrhundert hieß, sich durch die komplexen und oft genug katastrophalen Geschehnisse durchzulavieren, den Ideologien zu trotzen oder zu folgen, das lässt sich in diesem kondensierten und doch leichtfüßigen unsentimentalen Roman nachempfinden. Kein überflüssiges Wort, kein Satz, der nicht an der richtigen Stelle stünde. Manchmal genügen knapp 160 sprachlich überzeugende Seiten, um ganze Welten und ganze Schicksale einzufangen, und es bleibt ein Rätsel, warum Katerina Poladjans „Goldstrand“ auf der Longlist des Deutschen Buchpreises fehlt.