Michael Köhlmeier: „Dornhelm“
© Zsolnay Verlag
Fast wie von Fellini
06:29 Minuten

Michael Köhlmeier
Dornhelm - Roman einer BiografieZsolnay Verlag, Wien 2025288 Seiten
26,00 Euro
Robert Dornhelm verbindet in seinen Filmen komische Gespräche mit großen Ideen und Poesie. Der Regisseur hat dem Autor Michael Köhlmeier sein Leben erzählt. Daraus ist ein biografischer Roman voller Ideen, Legenden und lyrischer Elemente geworden.
Die Einsamkeit des Kranführers, allein in schwindelerregender Höhe, das mag für den Kranführer ein Problem sein. Für einen Filmemacher ist es: ein starkes Motiv. Schon läuft die Fantasiemaschine an: Der Kranführer mit der eingedrückten Nase, der ihm noch eben auf der Straße seine Geschichte erzählt hat, erinnert den Regisseur Robert Dornhelm zunächst an seinen einsamen Vater. Dann korrigiert er sich: Nein, der Kranführer müsse identisch sein mit jenem Bauarbeiter, dem er einst, verleumdet von einer Frau, einer toxischen Geliebten, die Nase einschlug – und der sicher immer noch nach ihm suche. Als Micki, Dornhelms Gegenüber, einsteigen will auf diesen wilden Handlungsentwurf, ruft er aus: „Kein Film, nein! Bitte, nicht auch noch einen Film daraus machen!“
Das ist pure Koketterie, denn zu quasi allen Erfahrungen und Ideen werden hier Filmplots ersonnen. So ist das, wenn zwei potente Geschichtenerzähler aufeinandertreffen. Der eine ist der ungeheuer produktive Autor Michael Köhlmeier, der auch schon Drehbücher verfasst hat, nämlich für zwei Filme des österreichischen, seit Langem in den USA lebenden Regisseurs Robert Dornhelm. Der andere ist eben dieser Filmemacher mit ungarisch-rumänischen Wurzeln und einer so bewegten Familiengeschichte, dass sie selbst einen hervorragenden Filmstoff abgäbe.
Eine filmreife Familiengeschichte
Dornhelms Großvater väterlicherseits, ein liberaler jüdischer Kapitalist, war einer der reichsten Menschen Rumäniens. Die Kommunisten enteigneten die Familie und bestraften den Sohn: Dornhelms Vater verbrachte mehrere Jahre im Gefängnis und im Arbeitslager. Danach emigrierte die Familie von Temesvar nach Wien. Er würde, sagt Dornhelm, gern sehen, wie der große Regisseur Fellini sein Leben verfilme – und dabei die Lücken fülle.
Vorerst aber ist aus diesem legendenhaft erinnerten Leben kein Film, sondern ein Buch geworden. Das wiederum scheint auf den ersten Blick ein reiner Gesprächsband zweier enthusiastischer Künstler zu sein, trägt aber nicht zu Unrecht die Genrebezeichnung „Roman“, denn Köhlmeier hat die Unterhaltungen aus der Erinnerung aufgeschrieben – und dabei sicher ähnlich kräftig überformt, wie es Fellini getan hätte. Nur so lässt sich wohl dieser schwerelose Stil erreichen, der ein hohes intellektuelles Niveau mit erzählerischer Leichtigkeit vereint. Mündlich und assoziativ geht es zu. Dornhelms Herkunft und Jugend dienen als Anekdoten-Reservoir, aber vor keiner philosophischen Frage über Schuld und Lüge scheuen die beiden zurück.
Nebenbei vermittelt das Buch viel Wissen über die Historie und die Geschichte des Films. So spricht Dornhelm über den Schauspieler Peter Lorre. Der NS-Propagandachef Joseph Goebbels habe gewusst, dass Lorre Jude war, und doch habe ihm gefallen, wie er den Mörder im Film „M“ spielte: „Angeblich hat Goebbels dem Peter Lorre vorgeschlagen, ihn zum Arier zu machen, der Bösewicht-Arier sozusagen. Das wollte der Lorre aber nicht. Da hat ihm Goebbels geraten, Deutschland zu verlassen. Gutwillig geraten. Er hat ihm sogar angeboten, ihm dabei zu helfen. So ein Fan war er.“ Das führt zu der Frage, wie man jemanden zum Arier macht, der keiner ist. Köhlmeier hat die schlagende Antwort parat: „Man sagt einfach, du bist einer.“
Im Grausamen die Poesie entdecken
Immer wieder geht es in den Gesprächen um politische Allmacht und um das Leben in Diktaturen, sei es die nationalsozialistische, sei es die kommunistische. Den roten Faden bildet Roberts Lebensweg: seine ungeschönten Erinnerungen an die Großeltern, seine Schuldgefühle gegenüber dem Vater, der ihm fremd blieb nach der Haft, die unendliche Zuneigung zum verstorbenen Bruder Peter, eine in Filmprojekten durchmessbare Karriere in Wien und Los Angeles.
Thematisiert wird natürlich auch Dornhelms Ästhetik: „Poesie und Doku zusammenzubringen – das liegt nicht auf der Hand. Komische Gespräche mit großen Ideen und echter Poesie vermischt. Das wollte ich. Das will ich immer noch. Was für eine Überlegung steht dahinter? Diese: Die Welt ist poetisch, egal, ob sie grausam ist oder hässlich oder komisch oder absurd, man muss die Poesie in ihr nur entdecken.“
Die Anekdoten sprudeln aus Robert Dornhelm nur so hervor, viele davon grausam, aber poetisch. Mal geht es um einen einäugigen Hund im Kampf mit dem Rattenhäuptling von Temesvar, mal um eine vor aller Augen verbrannte Nachbarin. Auch mit großen Hollywood-Namen wirft er gern um sich. Billy Wilder habe er gut gekannt, ebenso Grace Kelly, die den Kommentar zu seinem ersten Film sprach.
Legenden für Liebhaber
Grace Kelly habe 1979 auch die Idee zu einem letztlich gescheiterten Film über Wunderkinder gehabt, für den sie sich Roald Dahl als Drehbuchautor wünschte. Der habe gegenüber Dornhelm dann aber eine Gegenleistung verlangt: „Er sagte: Ja, das mache ich… wenn! Wenn was? Wenn ich, und zwar jetzt gleich, noch bevor ich den Mantel ablege, Grace Kelly anrufe und sie frage, ob seine Frau während der Dreharbeiten zu dem Film ‚Bright Leaf‘ eine Affäre mit Gary Cooper gehabt habe.“
Eine wunderbare, nicht mehr nachprüfbare Anekdote: dass der weltberühmte Autor Roald Dahl sich ein Leben lang mit der Frage quälte, ob seine Frau, die Schauspielerin Patricia Neal, sich mit dem männlichsten Superstar Hollywoods eingelassen hatte und ihn darüber immer weiter belog.
Ganz verlässlich sind all die Geschichten vielleicht nicht. Mal will Dornhelm einen echten Geist gesehen, dann wieder den ORF mit einem Film über das Dracula-Vorbild Prinz Vlad III. geschockt haben: Rumänische Roma hätten im Auftrag des Regisseurs die Lieblingsbeschäftigung des Prinzen, das Pfählen der Gegner, so realistisch nachgestellt, dass man es in Wien für gefilmte Folter hielt. Auch das ist vor allem: gut erzählt.
Gerade wenn Dornhelm schwört, eine Sache sei hundertprozentig so geschehen, ist Vorsicht angebracht. Aber wem Legenden, Mythen und Geschichten mehr wert sind als die nackte Wahrheit, wer also literarisch affizierbar ist, der wird hier reichlich belohnt.