Bücher über Migration

Von Superdiversität bis Kanak Sprak

08:40 Minuten
Miniaturfiguren mit Koffern stehen auf einem e-Book-Reader.
Migration ist ein vielschichtiges Thema, wie die Auswahl unserer Bücher zeigt. © Imago / Pond5 Images / xnitox
Von Christian Rabhansl |
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Das Thema Migration hat viele Ebenen und Facetten, die oft übersehen werden. Bücher spiegeln diese Vielfalt: ob subjektive Lebenswelten, ideologische Ansätze, Problemanalyse oder Lösungsansätze. Wir präsentieren einige Titel – als Denkanstoß oder zur Orientierung. Denn Lesen bringt die Welt näher.
Der Tonfall in der Debatte um Migration und Flucht ist rau. Auch, weil es ums Geld geht: Zu teuer sei die Einwanderung, fürchtet in Umfragen die Mehrheit der Bevölkerung.
Der Wirtschaftsweise Martin Werding hat hingegen das Gegenteil ausgerechnet: Migration könne Milliarden in die Staatskasse spülen. Würden jährlich 200.000 zusätzliche Personen nach Deutschland einwandern, spare der Staat auf Dauer rund 104 Milliarden Euro im Jahr. Damit verschiebt er den Fokus des politischen Streits von Geflüchteten auf Arbeitsmigranten vor allem aus dem europäischen Ausland.
Doch werden diese Menschen kommen? Jüngste Umfragen zeigen vielmehr, dass jeder vierte Zugewanderte in Deutschland überlegt, das Land wieder zu verlassen – besonders hoch ist der Auswanderungswille unter den Gebildeten und Hochqualifizierten. Als Gründe gelten Rassismus, ein politischer Rechtsruck und immer neue Debatten um eine verbindliche Leitkultur.
Die Debatte um Einwanderung, Flucht und Zusammenleben wird oft erhitzt und ohne die nötige Differenzierung geführt. Wir stellen Sachbücher und Literatur vor, die eine Vielfalt von Perspektiven zeigen.

Steven Vertovec: „Superdiversität. Migration und soziale Komplexität“

Multikulturell sei unsere Gesellschaft, hieß es lange. Und Multikulti wurde zum Spottwort für alles, was versucht, Migration positiv bzw. schlicht als gegeben anzusehen.
Um zu zeigen, wie vielfältig und komplex die gesellschaftlichen Prozesse, Gruppen und Beeinflussungen sind, benutzt der US-amerikanische Sozialwissenschaftler Steven Vertovec den Begriff Superdiversität. Dabei schlüsselt er auf, wie soziale, kulturelle, religiöse und sprachliche Faktoren mit anderen wie Geschlecht, Alter und ökonomischem Status zusammenwirken.
„Superdiversität und ihre Auswirkungen“, so hieß der erfolgreiche Fachartikel, in dem Vertovec seine Überlegungen im Jahr 2007 zuerst veröffentlichte und den er seinem Buch nun voranstellt. In der wissenschaftlichen Community ist Superdiversität seither ein viel zitierter Begriff, wenn es darum geht, die Auswirkungen von Migration auf eine Gesellschaft zu beschreiben. (cs)

Steven Vertovec: „Superdiversität. Migration und soziale Komplexität“
Suhrkamp Verlag
Übersetzung: Alexandra Berlina
364 Seiten, 32 Euro


Özgür Özvatan: „Jede Stimme zählt"

42,2 Prozent der unter 20-Jährigen haben in Deutschland einen Migrationshintergrund. Das wäre ein gewaltiges Wählerpotenzial. Warum haben es die demokratischen Parteien bis heute versäumt, diese Wählerinnen und Wähler anzusprechen?
Der Berliner Politikwissenschaftler und Soziologe Özgür Özvatan warnt in seinem Buch vor einer beunruhigenden Entwicklung: Während demokratische Parteien die migrantischen Stimmen links liegen lassen, haben antidemokratische und populistische Kräfte deren Bedeutung längst begriffen und umwerben sie gezielt.
Trotz ihres Profils als migrationsfeindliche Partei werbe gerade die AfD gezielt um Migrantinnen und Migranten und maskiere sich dadurch gegen Rassismusvorwürfe. Zugleich zapfe sie den auch unter Menschen mit Migrationsgeschichte zunehmenden Vertrauensverlust in demokratische Parteien an.
Özgür Özvatan warnt: „Wer migrantische Wähler:innen und Communitys weiterhin ignoriert, schwächt nicht nur die eigene Partei, sondern gefährdet langfristig das gesamte demokratische System in Deutschland.“ (cr)

Özgür Özvatan: „Jede Stimme zählt. Von Demokraten unterschätzt, von Populisten umworben: migrantische Deutsche als politische Kraft“
Ch. Links Verlag
175 Seiten, 20 Euro


Feridun Zaimoglu: „Kanak Sprak"


1995 schleuderte Feridun Zaimoglu einen neuen Sound in die deutsche Gegenwartsliteratur. So wütend und kunstvoll hatte vor dem 1964 in der Türkei geborenen und seit seinem sechsten Lebensmonat in Deutschland lebenden Autor noch niemand die post-migrantische Gesellschaft angeprangert.
„Kanak Sprak“ basiert auf Interviews mit türkischstämmigen Männern „vom Rande der Gesellschaft“. Auf der Straße, vor der Diskothek und in der psychiatrischen Klinik hatte Zaimoglu Stimmen von Rappern, Sexarbeitern und Arbeitslosen gesammelt. 1998 kamen in „Koppstoff“ die Perspektiven türkischstämmiger Frauen dazu. Den Kindern von türkischen „Gastarbeitern“ in der zweiten und dritten Generation stellte Zaimoglu dabei eine simple Frage: „Wie lebt es sich als Kanake in Deutschland?“
Die Antworten literarisierte Zaimoglu zu einer Kunstsprache. Vom Feuilleton gefeiert, sorgte diese Literatur auch für Irritation, erzählt Zaimoglu: „Ich verbinde mit diesem Buch ziemlich heftige Lesungen. Ich habe das Buch aufgeschlagen, bin auf- und abgetigert und habe im Sinne eines Stilett-Stakkatos losgelegt.“
Teilweise musste Zaimoglu sogar unter Polizeischutz auftreten. Als Migrationsliteratur wollte Feridun Zaimoglu, mittlerweile etablierter und vielfach ausgezeichneter Autor, sein Schreiben nie verstanden wissen: „Ich verorte mich mit allen meinen Büchern in der deutschen Literatur, weil mein Leben deutsch ist und weil Kanak Sprak ein deutsches Phänomen ist“. (mz)

Feridun Zaimoglu: „Kanak Sprak / Koppstoff. Die gesammelten Misstöne vom Rande der Gesellschaft“
Kiepenheuer & Witsch
240 Seiten, 8 Euro


Raphaëlle Red: „Adikou“

Mit den Menschen migrieren auch Sprache und Literatur. Ob der Begriff einer „postmigrantischen Literatur“ geeignet ist, um die Unterscheidung zwischen „ihr“ und „wir“ aufzuheben, ist umstritten. Viele der vermeintlichen „Migrantinnen und Migranten“ sehen sich heute als deutsche Autorinnen und Autoren.
So auch die in Paris geborene, in Deutschland aufgewachsene und dreisprachig schreibende Autorin Raphaëlle Red. In ihrem Roman „Adikou“ begibt sich die Protagonistin nach Togo auf die Spuren ihrer Vorfahren väterlicherseits. Red hält Labels wie „postmigrantische Literatur“ allenfalls für „hilfreich“, möchte aber nicht, dass der Begriff zur „Schublade“ wird.
Annemarie Blumenhagen von der Lizenzabteilung des Ullstein-Verlages betont, wie wichtig es ist und wie froh sie darüber ist, dass die Literaturlandschaft in Deutschland inzwischen viel diverser ist als noch vor zehn Jahren. Wobei sie ein „Labeling“ skeptisch sieht.
Einig sind Red und Blumenhagen sich darin, dass Literatur über die französische Kolonialzeit in Deutschland zum Beispiel besonders gut ankomme, weil sie eine gewisse Distanz zur eigenen Geschichte schaffe. (svo)

Raphaëlle Red: „Adikou“
Übersetzt von Patricia Klobusiczky
Rowohlt 2024
224 Seiten, 24 Euro


Ismail Küpeli: „Graue Wölfe. Türkischer Rechtsextremismus in Deutschland“

Zeigefinger und kleiner Finger in die Höhe gereckt, dazwischen den Daumen mit Ring- und Mittelfinger zusammengeführt – der „Wolfsgruß“ ist ein Erkennungszeichen türkischstämmiger Rechtsextremisten. In Deutschland bilden tausende von ihnen die wohl zweitgrößte rechtsextreme Bewegung. Stets im Visier: Juden und Armenier und Kurden.
Die „Grauen Wölfe“ sind gewalttätig, rassistisch und ausgrenzend, werden aber von Staat und Gesellschaft weitgehend ignoriert und sich selbst überlassen.
Der Bochumer Politikwissenschaftler Ismail Küpeli beobachtet die Entstehungsgeschichte der „Grauen Wölfe“, ihre ideologischen Ziele und ihre Methoden.
In Deutschland, so beschreibt es Küpeli, gewannen die „Grauen Wölfe“ seit den 1970er-Jahren an Einfluss – auch als scheinbarer Partner der Unionsparteien gegen den Kommunismus. Seither bauten sie den Kontakt zu deutschen Rechtsextremen und Antisemiten auf. Anknüpfungspunkte heute: Israelfeindschaft.
Während Nachbarländer bereits handeln, sind die „Grauen Wölfe“ in Deutschland bislang nicht verboten. Küpeli entwirft deshalb Ideen, wie Staat und Gesellschaft dieser Gefahr entgegentreten sollten. (cr)

Ismail Küpeli: „Graue Wölfe. Türkischer Rechtsextremismus in Deutschland“
Unrast 2025
136 Seiten, 14 Euro


Ludger Pries: „Migration. Warum man sie nicht steuern kann – aber verstehen und mitgestalten“

Der Migrationssoziologe Ludger Pries unterscheidet zwischen verschiedenen Arten von Migration, zum Beispiel Bildungsmigration, Familienzusammenführung oder Saisonarbeit, und öffnet so den Blick auf die verschiedenen Ebenen und Beteiligten. So lässt sich besser verstehen, wer welche Erwartungen einbringt und wie die verschiedenen Interessen zusammengebracht werden können.
Ein wichtiger Punkt bei der Differenzierung: Migrationsverläufe sind nicht immer vorauszusehen, eine geplante Einwanderung kann scheitern, eine vorgesehene Rückkehrmigration verworfen werden. Ankommen sollte als dynamischer, längerer Prozess mit ungewissem Ausgang verstanden werden, meint Pries.
Migration lasse sich zwar verstehen und in Maßen beeinflussen, aber nicht steuern, schreibt er. Die Beeinflussung und Mitgestaltung von grenzüberschreitender Mobilität seien jedoch wichtig und möglich. Eine zentrale Forderung dabei: Deutschland solle sich nicht nur als Einwanderungsland verstehen, sondern auch als Migrationsland. Dann würde man anerkennen, dass es verschiedene Arten von Migration gebe, die eben nicht alle auf komplette Integration bzw. Assimilation hinauslaufen. (cs)

Ludger Pries: „Migration. Warum man sie nicht steuern kann – aber verstehen und mitgestalten“
Campus Verlag
146 Seiten, 26 Euro.


Waslat Hasrat-Nazimi: „Rausländer – unsere Koffer sind gepackt“

Jeder vierte Einwanderer überlegt, Deutschland wieder zu verlassen, das ergab jüngst eine repräsentative Umfrage des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB). Besonders hoch ist der Anteil der Auswanderungswilligen unter den Hochqualifizierten.
Das sei kein Wunder, meint die deutsch-afghanische Journalistin Waslat Hasrat-Nazimi. Sie kritisiert einen zunehmenden Rassismus und einen gefährlichen politischer Rechtsruck, der bei manchen die Angst vor einem „Tag X“ wachsen lasse, nach dem es zu spät sein könne, um das Land noch zu verlassen.
Sie selbst ist als Kind mit ihren Eltern aus Afghanistan geflohen und in Deutschland aufgewachsen; heute leitet Hasrat-Nazimi die Afghanistan-Redaktion der Deutschen Welle. Lange habe sie versucht, „das Integrationsspiel mitzuspielen“, bis sie gemerkt habe: „Es ist egal, was ich tue, egal, wie sehr ich mich anstrenge und mich integriere. Ich bleibe doch nur eine Ausländerin.“
Dass sie mit dieser Enttäuschung nicht allein ist, belegt ihr Buch voller Zahlen, Interviews und persönlicher Erlebnisse. Es ergibt das Bild eines Landes, dass es Eingewanderten zunehmend schwer macht, sich fürs Bleiben zu entscheiden. Gerade denen, die es sich aussuchen können. (cr)

Waslat Hasrat-Nazimi: „Rausländer – unsere Koffer sind gepackt. Die katastrophalen Folgen von Rassismus, Ausgrenzung und Diskriminierung“
Rowohlt Taschenbuch 2025
272 Seiten, 14 Euro


Liao Yiwu: „18 Gefangene. Fluchtgeschichten aus China, dem größten Gefängnis der Welt“

Der chinesische Exil-Schriftsteller Liao Yiwu kam nach einem 1989 verfassten Gedicht über die gewaltsame Niederschlagung der Studentenproteste auf dem Tian’anmen-Platz für vier Jahre in Haft und konnte anschließend fliehen.
In seinem Buch „18 Gefangene“ erzählt er die Geschichten von Menschen, denen keine Flucht möglich war. Es sind die eindringlichen Porträts politischer Gefangener und auch Kleinkrimineller, die in chinesischen Gefängnissen drangsaliert und brutalisiert wurden. Ihre Schicksale erstrecken sich von der Kulturrevolution bis in die Gegenwart.
Sie alle eint, dass sie auch nach Haftende nicht frei waren, sondern gefangen in China, dem „größten Gefängnis der Welt“. Und seit Peking auch Hongkong übernommen hat, scheinen alle Fluchtwege versperrt.
Das Ziel des „heutige(n) Gefängnischef(s) Xi Jinping“? Yiwus Illusionslosigkeit sollte denen im Westen zu denken geben, die angesichts von Russlands Angriffskrieg das totalitäre China für das geringere Übel halten. Yiwu schreibt: „Xis sogenannter ‚chinesischer Traum‘ besteht darin, die ganze Welt mit technologischen Mitteln in ein unsichtbares chinesisches Gefängnis zu verwandeln.“ (mm/cr)

Liao Yiwu: „18 Gefangene. Fluchtgeschichten aus China, dem größten Gefängnis der Welt“
Übersetzt von Brigitte Höhenrieder und Hans Peter Hoffmann
S. Fischer 2025
528 Seiten, 32 Euro

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