Romane über Migration

Geschichten vom Ankommen in einem fremden Land

29:31 Minuten
Blick auf einen Flachbau mit provisorisch verhangenem Fenster auf dem Gelände einer Flüchtlingsunterkunft.
Eine Flüchtlingsunterkunft als Bunker: So bezeichnet die Hauptfigur des neuen Romans von Usama Al Shahmani ihre Unterkunft. © Getty Images / iStockphoto / Heiko119
Von Ralph Gerstenberg · 07.10.2022
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Was bedeutet es, mit fehlenden Sprachkenntnissen in einem fremden Land aufzuwachsen und zu leben? Neue Romane darüber befeuern auch die Debatte über die deutsche Einwanderungsgesellschaft.
Das Ankommen, das Leben im Exil, die Suche nach einem Platz in der Fremde – davon handeln die neuen Romane von Elina Penner und Usama Al Shahmani.

 „Er klopft an die Tür des Exils, jeden Tag. Weder wird die Tür geöffnet, noch hört er auf zu klopfen. Er weiß nicht, wie dieses Dilemma ein Ende nehmen soll.“ 

aus: „Der Vogel zweifelt nicht an dem Ort, zu dem er fliegt“ von Usama Al Shamani

Gün Tank und Lin Hierse schreiben hingegen über ihre Mütter, die vor ihrer Geburt in das Land gekommen sind, in dem sie aufwuchsen. Also die erste Generation der Eingewanderten.

Traum von Freiheit endet in Flüchtlingsunterkunft

"Von der ersten Generation kamen Reaktionen wie: Du hast uns eine Stimme gegeben. Ein größeres Lob kann man nicht bekommen", sagt Gün Tank. "Menschen der zweiten Generation finden dann vielleicht ihre Mütter wieder."
Elina Penner ergänzt: Sie glaube, dass die zahlreichen Menschen, die in den 90er-Jahren hierher gekommen sind, "erst mal hauptsächlich damit beschäftigt waren anzukommen – und zwar im Sinne von zu arbeiten und auch viel zu arbeiten“.

Usama Al Shahmani las im Sommer 2022 beim Klagenfurter Literaturwettbewerb. Der fand in einer Zeit statt, in der Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer auf der Flucht vor Putins Angriffskrieg in ihrem Heimatland sind. Größtenteils Frauen und Kinder, die in den europäischen Nachbarstaaten möglicherweise ähnliche Erfahrungen machen, wie sie der Autor in seinem Roman „Der Vogel zweifelt nicht am Ort, zu dem er fliegt“ beschreibt:

„Die Fremde dehnte sich aus in ihm, sie fraß Stück für Stück seine Hoffnung auf. Er kam zu dem Schluss, nicht in der Schweiz bleiben zu wollen (...) Er wusste überhaupt nicht mehr, was er hier sollte. Europa, sein Traum von Freiheit, endete in einem Bunker mit albtraumhafter Atmosphäre?“ 

aus: „Der Vogel zweifelt nicht an dem Ort, zu dem er fliegt“ von Usama Al Shamani

Als Bunker wird die Flüchtlingsunterkunft bezeichnet, in der Al Shahmanis Protagonist Dafer auf die Genehmigung seines Asylantrags hofft.

Sprache als Anker in der Fremde

Usama Al Shahmanis Hauptfigur Dafer teilt mit seinem Schöpfer eine ganze Reihe von Erfahrungen. Die Autofiktion, also die Verbindung von realen Erlebnissen mit Erfundenem und Erdachtem, ist weit verbreitet in Romanen, die Migration und Migrationserfahrungen thematisieren. Usama Al Shahmani will mit seinen Figuren jedoch keineswegs gleichgesetzt werden. Die Sprache sei entscheidend, meint Al Shamani: „Die Poesie, die Dichtung. Ich mixe alles, wenn ich schreibe: den arabischen Geist und den deutschen Geist, andere Erfahrungen und Sprachen, die ich kenne, sind alle da drin.“
Für Al Shahmanis Hauptfigur Dafer wird die Sprache zu einem Anker in der Fremde. In arabischer Sprache verfasst er Gedichte und erinnert sich an Worte, Sätze und Geschichten. Das Erlernen der deutschen Sprache eröffnet ihm dagegen neue Möglichkeitsräume.
Usama Al Shahmani erzählt von einer Art Selbstfindung in der Fremde. Seine Hauptfigur Dafer stellt schließlich fest, dass Heimat kein Ort ist, sondern ein Gefühl, das man in sich trägt, egal, wo man sich aufhält. Von der Politik erwartet Al Shahmani, dass sie es den Flüchtenden leichter macht anzukommen – dort, wohin sie fliehen mussten. Flucht sei keine Frage der Schuld, sondern eine Realität.

Selbstbewusst postmigrantisch schreiben

Die Autorin Lena Gorelik ist die erste Inhaberin der bundesweit einzigartigen Poetikdozentur für postmigrantisches Schreiben an der Leibnitz Universität in Hannover. Postmigrantisches Schreiben sei für sie "ein Schreiben, das sich im Bewusstsein über die eigene Migration befindet, das sich auch damit auseinandersetzt – aber sich nicht darauf reduziert, nur die Migration zu erzählen“. Es sei ein selbstbewusstes Schreiben: „In den vergangenen Jahren gibt es immer mehr Romane, die auch Dinge benennen, wie Rassismus beispielsweise oder Ausgrenzung, dies selbstbewusst tun und dies aber vor allem auch immer wieder in einer neuen literarischen Form tun.“
Und sie findet, der Sprachraum der deutschen Literatur werde durch postmigrantische Schreibweisen enorm bereichert: „Es gibt tatsächlich viele Romane, die einfach andere Sprachen verwenden, wo die Wörter aus anderen Sprachen einfach eingebaut werden in den deutschen Text, manchmal erklärt, manchmal auch nicht, wo auch mit anderen Schriftarten gespielt wird.“

Plautdietsch als Heimat

Die Sprache, die Elina Penner in ihr Romandebüt „Nachtbeeren“ einfließen lässt, ist mit dem Deutschen verwandt. Plautdietsch sprechen Russlandmennoniten, die ab Ende des 18. Jahrhunderts vor allem aus der Schweiz und aus Westpreußen in das Russische Reich auswanderten.
„Diese Minderheitensprache haben sie sich mit unfassbar viel Sturheit, Dickköpfigkeit und Finesse über Jahrhunderte bewahrt", erzählt Elina Penner: "Ich werde ja auch oft gefragt, wo meine Heimat wäre. Und dann sage ich immer: Na ja, im besten Fall in dieser Sprache. Die Sprache ist ein wesentlicher Teil auf jeden Fall.“
Seit den 1970er-Jahren flohen viele Mennoniten als Spätaussiedler vor den Deportationen und Diskriminierungen, die sie als religiöse Minderheit im Sowjetstaat erlitten. Die 1987 in der Sowjetunion geborene Autorin Elina Penner ist 1991 in die Bundesrepublik gekommen. Auch Nelli, die Protagonistin aus ihrem Roman „Nachtbeeren“, kam als Russlandmennonitin in den 1990er-Jahren nach Deutschland, nach Ostwestfalen.
Der Roman wird multiperspektivisch erzählt, aus der Sicht von Nelli, ihrem Lieblingsbruder Eugen und ihrem Sohn Jakob. Penner erzählt, warum: „Mir war es sehr wichtig, die mitgebrachte Generation zu Wort kommen zu lassen; weil das diejenigen sind, die bis jetzt auch immer sehr, sehr leise waren, weil die auch sehr, sehr gut darin waren, sich anzupassen und vielleicht auch ihre eigenen Diskriminierungserfahrungen gar nicht als solche angesehen haben.“

Emanzipation in der Fabrik

Nour ist die Hauptfigur in Gün Tanks Debütroman „Die Optimistinnen“. Eine junge Türkin, die es 1972 in die Oberpfalz verschlagen hat.

 „Nour ist nicht allein. Mit ihr leben viele weitere Frauen im Wohnheim. Frauen, die ihre Eltern, Geschwister oder Ehemänner und Kinder zu Hause gelassen haben. Arbeiten. Geld verdienen und das Geld nach Hause schicken, an die Lieben zu Hause, ins andere Dorf, in die Stadt, deshalb sind sie hier. Die Frauen kommen aus verschiedenen Ländern und Regionen.“

aus: „Die Optimistinnen“ von Gün Tank

Als „Roman unserer Mütter“ hat Gün Tank ihr Buch tituliert, mit dem sie den Frauen, die Anfang der 1970er-Jahre nach Deutschland kamen, also der ersten Generation von Arbeitsmigrantinnen, eine Stimme geben möchte, wie sie sagt: „Das Spannende zu dieser Zeit war ja eigentlich, dass es ein Drittel Gastarbeiterinnen waren. Und was wir oft nicht sehen wollen: Zu der Zeit war es nicht normal, dass Frauen gearbeitet haben in der Bundesrepublik.“
Es ist vor allem das Bild der Öffentlichkeit von kopftuchtragenden und unterdrückten Frauen, das Gün Tank mit ihrem ersten Roman zurechtrücken will. Ihre Mutter, die wie ihre Hauptfigur Nour zur ersten Generation von Einwanderinnen zählt, ist eine politisch engagierte Frau mit einem stark ausgeprägten Gerechtigkeitssinn. 

Die Leichtlohngruppe und die Frauenbewegung

Bei einem Autozulieferbetrieb in Neuss streiken sie und ihre Freundinnen gegen die sogenannte Leichtlohngruppe, nach der Frauen für ihre angeblich weniger schwere Arbeit einen geringeren Arbeitslohn erhalten als Männer. Ein zu Unrecht vergessenes Kapitel der Frauenbewegung, findet Gün Tank, das sie mit ihrem Roman wieder in Erinnerung rufen will: „Wenn wir an die Frauenbewegung denken, denken wir an die Universitäten, denken wir an die Studentinnen, aber wir denken viel zu wenig daran, was eigentlich in den Unternehmen auch passiert ist. Also dass es da nichtstudierte Frauen gab, die genauso stark für ihre Frauenrechte gekämpft haben.“
Auch die Verunsicherungen der zweiten Generation bezüglich Herkunft, Identität und Zugehörigkeit legt Gün Tank ihrer Ich-Erzählerin in den Mund.
Lena Gorelik meint dazu: „Das ist tatsächlich eine innere Auseinandersetzung mit den Eltern und den Müttern. Man ist noch nicht ganz hier, also, weil die Eltern noch nicht ganz hier sind. Und man ist aber auch nicht mehr dort. Und eigentlich ist man damit nirgendwo. Und jetzt nimmt man diese Eltern mit Interesse und Respekt wahr und möchte, dass denen auch eben von außen Respekt gezollt wird. Ich finde das eine sehr schöne und eine sehr bereichernde Entwicklung.“

Roman über Mutter-Tochter-Beziehung

Lin Hierse wiederum hat mit „Wovon wir träumen“ einen tastenden, reflektierenden Roman geschrieben, der sich mit ihrer eigenen Herkunft, Identität und Zugehörigkeit auseinandersetzt.
Er erzählt von ihrer Mutter, die in China aufwuchs und nach Deutschland kam. Doch es ist vor allem ein Roman über eine Mutter-Tochter-Beziehung, in der die unterschiedliche Sozialisation immer wieder zu Konflikten führt.
An zentraler Stelle im Buch kommt es zu einem schlimmen Streit. Die Mutter wirft ihrer Tochter vor, keine „echte Chinesin“ zu sein. Familie sei ihr egal. Ein Vorwurf, der die Ich-Erzählerin unerwartet und hart trifft.

„Alles, was ich mein Leben lang versucht hatte, richtig zu machen, wurde in diesem kurzen Moment wertlos. Oder: Alles, was ich je falsch gemacht hatte, wog plötzlich schwerer als jede meiner Bemühungen, das Richtige zu tun.“

aus: „Wovon wir träumen“ von Lin Hierse

Migration und Auseinandersetzung mit den Eltern

Geschichten vom Ankommen, von dem Bemühen, das Eigene in der Fremde zu finden und zu bewahren, sind mittlerweile sehr vielfältig geworden.
Bücher, die Migrationserfahrungen direkt und unmittelbar schildern, stehen neben respektvollen Auseinandersetzungen mit der Elterngeneration, Schilderungen von Einwanderermilieus neben reflexiven Mutter-Tochter-Geschichten.
„Es gab schon ganz viele Begriffe für diese Art von Literatur“, sagt Lena Gorelik. "Postmigrantisch ist eben der neueste. Und um dem zu entgehen, bringt es nur etwas, tatsächlich über die Werke und die Bücher zu sprechen und nicht nur über den migrantischen oder auch postmigrantischen Anteil daran zu sprechen.“

Mitwirkende: Frank Arnold, Cornelia Schönwald, Tonio Arango
Regie: Klaus Michael Klingsporn
Ton: Jan Fraune
Redaktion: Dorothea Westphal

Literatur:
„Der Vogel zweifelt nicht an dem Ort, zu dem er fliegt“ von Usama Al Shamani  
"Nachtbeeren" von Elina Penner
"Die Optimistinnen" von Gün Tank
"Wovon wir träumen“ von Lin Hierse

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