Liao Yiwu: "18 Gefangene"
© S. Fischer Verlag
Sichtbare und unsichtbare Gefängnisse
06:31 Minuten

Liao Yiwu
Aus dem Chinesischen von Brigitte Höhenrieder und Hans Peter Hoffmann
18 Gefangene: Fluchtgeschichten aus China, dem größten Gefängnis der WeltS. Fischer, Frankfurt am Main 2025528 Seiten
32,00 Euro
Auch wer Chinas Kerker überlebt, ist noch lange nicht frei. Umso wichtiger ist die Arbeit von Schriftsteller und Chronist Liao Yiwu. Er stellt dem offiziell verordneten Schweigen und Vergessen die Lebensgeschichten der Opfer entgegen.
Der chinesische Schriftsteller Liao Yiwu hat ein großes Thema von geradezu universeller Wucht: Das Leid des Einzelnen in einer Gesellschaft, in der renitente Individualität nicht nur nicht zählt, sondern ein Verdachtsmoment darstellt, eine Gefahr und zu eliminierende Absonderlichkeit.
Der 1958 in der Provinz Sichuan geborene Autor, der nach einem 1989 verfassten Gedicht über das Massaker auf dem Pekinger Tiananmen-Platz für vier Jahre in Haft kam und dem im Sommer 2011 schließlich die Flucht aus China nach Deutschland gelang, ist jedoch keiner, der Heiligenlegenden verfassen würde.
Dazu ist Yiwu auch als Chronist realer Lebensläufe zu sehr Romancier – nicht im Sinne einer Fiktionalisierungsfertigkeit, sondern weil er in seinem Schreiben dem Inkohärenten und Widersprüchlichen nicht ausweicht zugunsten einer hehren Botschaft. Vielmehr besteht er gerade angesichts des Verstörenden auf Wahrnehmungsgenauigkeit und Präzision.
Worüber sonst pietätvoll geschwiegen wird
Sein neues Buch „18 Gefangene. Fluchtgeschichten aus China, dem größten Gefängnis der Welt“ ist in nahezu jeder Geschichte zutiefst verstörend. Auch über jene Haft-Realitäten, die selbst Alexander Solschenizyn, der große russische Realist und Autor des „Archipel Gulag“, einst lieber pietätvoll beschwieg, wird ausgiebig Bericht gegeben: Notdurft in Gemeinschaftszellen, bei deren Verrichtung abstruse Machtstrukturen sichtbar werden; sexuelle Gewalt von Seiten der Wächter und zwischen den Gefangenen; zeitlebens nie mehr abwaschbare Erfahrungen von physischem und psychischem Schmutz, von Niedertracht und Verrat.
Geschichten zerstörter Leben
Liao Yiwu hat während seiner eigenen, bis 1994 währenden Haft und in den Jahren danach fast schon obsessiv Lebensläufe von Menschen gesammelt, die das chinesische Riesenreich zu brechen versuchte.
Die damals entstandenen Interviews hat der Autor nun mit Vorbemerkungen versehen, die biographische Hintergründe anreißen oder den Ort der oft klandestinen Treffen beschreiben – so etwa eine „Petitionshotel“ genannte elende Unterkunft in der Millionenstadt Chengdu, in der einst zu Unrecht Verurteilte aus der Provinz hausen und darauf hoffen, bei den zuständigen staatlichen Beschwerdestellen vorgelassen zu werden.
Die damals entstandenen Interviews hat der Autor nun mit Vorbemerkungen versehen, die biographische Hintergründe anreißen oder den Ort der oft klandestinen Treffen beschreiben – so etwa eine „Petitionshotel“ genannte elende Unterkunft in der Millionenstadt Chengdu, in der einst zu Unrecht Verurteilte aus der Provinz hausen und darauf hoffen, bei den zuständigen staatlichen Beschwerdestellen vorgelassen zu werden.
Nicht alle der von Liao Yiwu Befragten waren politische Häftlinge, es sind auch Gewalttäter und kleine Ganoven darunter, die im Gefängnis zusätzlich brutalisiert wurden. Jüngere und ältere Männer erzählen ihre Geschichten, doch obwohl diese bereits vor inzwischen über einem Vierteljahrhundert aufgezeichnet wurden, haben sie nichts von ihrer existentiellen Dringlichkeit verloren.
Im Gegenteil: Der älteste ehemalige Häftling war bereits kurz nach Maos Sieg 1949 eingekerkert worden, ihm und seinen späteren Schicksalsgenossen hatte man in mechanischer Weise stets das Gleiche vorgeworfen: „Abweichlerei“ von der jeweiligen Parteilinie oder „Verrat am Volke“.
Viele der Entlassenen fanden danach ihre Familien nicht mehr wieder: Diese waren entweder unter den Millionen Verhungerten während der massenmörderischen Landwirtschaftsexperimente von Maos „Großem Sprung“ oder Opfer der nicht minder tödlichen „Kulturrevolution“.
Kein Entkommen, nirgends
Freilich gab es damals noch die winzige Chance, mit viel Glück ein Fluchtloch zu finden – sogenannte „Fluchtbibeln nach Hongkong“ wiesen den gefährlichen, aber in die Freiheit führenden Weg in die damalige britische Kronkolonie.
Und heute? Liao Yiwu beendet sein Buch mit einem Gedicht, das er in Anspielung auf jenes von 1989 „Das zweite Massaker“ nennt, gewidmet der 2020 auf Pekings Befehl niedergeschlagenen Hongkonger Demokratiebewegung:
„Das ist Hongkongs letzter Traum: Das Vaterland kommt nicht
Doch es kommt
Das verdammte Vaterland kommt
Und mit ihm: Verfolgung, Entführung, Gehirnwäsche, Mord“
Und „der heutige Gefängnischef Xi Jinping“? Liao Yiwus Illusionslosigkeit wäre nicht zuletzt auch jenen im Westen zu wünschen, die angesichts von Russlands Angriffskrieg das totalitäre China plötzlich sogar für das geringere Übel halten: „Xis sogenannter ´chinesischer Traum´ besteht darin, die ganze Welt mit technologischen Mitteln in ein unsichtbares chinesisches Gefängnis zu verwandeln.“