Ekstase und Kontrollverlust

Auszeit vom Ich

Eine Person blickt versunken und in Ekstase mit geschlossenen Augen nach oben.
Selbstvergessen im Moment: In der Ekstase die Grenzen des Alltags zu überschreiten, diese uralte Sehnsucht ist auch heute noch weit verbreitet. © Getty Images / Jonathan Knowles
17.02.2023
Karneval, durchtanzte Nächte, schamanistische Rituale. Es gibt viele Wege zur Ekstase. Woher rührt unser Bedürfnis, außer sich zu sein? Wie viel Spiritualität liegt darin? Und welche Gefahren bringen Zustände von Entgrenzung mit sich?
Die Ekstase entzieht sich einer eindeutigen Definition. Je nachdem, wo, wie und unter welchen Umständen Menschen diesen Ausnahmezustand des Bewusstseins erleben, kann er für sie eine ganz unterschiedliche Bedeutung haben.

Heilung und Wachstum oder Exzess und Vergessen

Rausch, Trance oder Ekstase können in sprituelle oder religiöse Praktiken eingebunden sein. Manche suchen darin Heilung oder persönliches Wachstum, andere möchten exzessiv feiern und ihre Sorgen vergessen, sei es im Straßenkarneval oder in einer scheinbar nicht endenden Clubnacht.
Der Drang, die Grenzen des alltäglichen Ichs zu überschreiten, scheint so alt wie die Menschheit zu sein, und er scheint auch in der technisierten und schnell getakteten Welt des 21. Jahrhunderts längst nicht abzuklingen, sondern eher noch stärker zu werden.

Was bedeutet Ekstase?

Das Wort Ekstase stammt aus dem Altgriechischen und bedeutet wörtlich übersetzt: "außer sich sein". Als Synonym dafür wurde früher auch der Begriff "Verzückung" verwendet. Das Ich tritt aus seinen Grenzen heraus. Diese Überschreitung oder Loslösung lässt sich auch zeitlich verstehen, sagt Paul-Philipp Hanske, der zusammen mit Benedikt Sarreiter das Buch "Ekstasen der Gegenwart" geschrieben hat.
"Das Ich-Bewusstsein spielt sich ja im Wachzustand ganz viel in der Vergangenheit und vor allen Dingen in der Zukunft ab: Man entwirft sich eigentlich immer auf eine Zukunft hin", erläutert Hanske. In der Ekstase seien Vergangeheit und Zukunft jedoch gleichermaßen abgeschnitten, so dass man sich "in einer ausgedehnten Gegenwart befindet, in der auch das Ich-Bewusstsein nicht mehr wirklich vorhanden ist: Man nimmt nur noch wahr, man ist noch eindeutig, aber man reflektiert nicht mehr."

Schluss mit dem Grübeln

Aus neurologischer Sicht werde im Zustand der Ekstase ein Netzwerk im Gehirn gedrosselt, das sonst sehr stark mit dem Entwerfen von Zukunftsszenarien beschäftigt sei, so Hanske. Gerade bei Depressionen sei eine erhöhte Aktivität dieses Netzwerks zu beobachten, das im Zusammenhang mit Zukunftsängsten stehe.
Zustände der Ekstase - seien sie durch psychoaktive Drogen ausgelöst, durch Meditation oder durch ein Flow-Erlebnis wie beispielsweise beim Musizieren - fahren diese Aktivität stark herunter, erklärt Hanske: "Das Ich in seiner grübelnden Ausprägung ist dann tatsächlich still und hat da nichts zu melden."

Wie erreichen wir den Zustand der Ekstase?

Der Zustand der Ekstase kann durch Rauschmittel hervorgerufen werden, eine wesentliche Rolle spielen hierfür zum Beispiel halluzinogene Drogen wie LSD und das in sogenannten "Magic Mushrooms" enthaltene Pilzgift Psilocybin. Seit einigen Jahren erfährt auch die spirituelle Droge Ayahuasca, die traditionell von peruanischen Schamanen eingesetzt wird, einen Boom in der westlichen Welt: Viele Europäer und US-Amerikaner versprechen sich von dem in Deutschland und vielen weiteren Ländern verbotenen Pflanzensud Gesundheit und Erleuchtung.

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Die Erfahrung der Ekstase lässt sich aber auch auf vielen anderen Wegen erreichen. Meditationstechniken, Yoga, Tanz und spezielle Atemübungen können ebenfalls Zustände hervorrufen, die uns die Grenzen des alltäglichen Ich-Bewusstseins überschreiten lassen.
Viele solcher Praktiken stammen ursprünglich aus spirituellen Zusammenhängen. Als Beispiel nennt Benedikt Sarreiter die Vipassana-Meditation, eine alte indische Methode, die der US-amerikanische Molekularbiologe und Achtsamkeitslehrer Jon Kabat-Zinn mit Versatzstücken aus anderen alten Ekstasetechniken zu einem Anti-Stressprogamm kombiniert habe.

Welche Rolle spielt Ekstase in den Religionen?

Viele Religionen kennen Praktiken der Ekstase, die einen Kontakt mit dem Heiligen versprechen. Schamanistische Jenseitsreisen und rituelle Tänze existieren nicht nur in außereuropäischen Traditionen. In großen Glaubensgemeinschaften wie dem Christentum seien diese ursprünglichen Praktiken jedoch weitgehend an den Rand gedrängt worden, sagt Paul-Philipp Hanske.
"Die Religionen haben sich bereinigt", sagt Hanske. Doch ein Bedürfnis nach Ekstase sei geblieben, das heute eher von "individualistischen spirituellen Praktiken" gestillt werde. Nichtsdestotrotz bieten auch die großen Weltreligionen Raum für die Ekstase, und sei es in speziellen Nischen.

Karneval im Kirchenjahr

Für ekstatisches Feiern ist gerade die katholische Kirche nicht unbedingt bekannt. Dennoch haben die Lieder einer rheinischen Karnevalssitzung gelegentlich kirchliche Anklänge: "Wenn das Halleluja kommt, dann tobt der Saal", sagt etwa der Kölner katholische Priester Thomas Frings, der in der Domstadt zugleich als "Feldgeistlicher" eines Karnevalsvereins firmiert.
Kirche und Karneval seien ja schon deshalb untrennbar verbunden, weil sich die närrische Zeit von den Feiertagen des Kirchenjahres ableitet, erklärt der Kölner Diakon Willibert Pauels.
Schon in der Antike gab es Feste, bei denen die üblichen Standesgrenzen fielen und die Menschen bis zum Exzess feierten. Die Kirche hat das mit ihrem eigenen Osterfest verbunden, erläutert Pauels: "Carnevale - Fleisch adé. Fastnacht - die Nacht vor dem Fasten, das heißt eben, dass das Animalische in uns noch einmal aus dem Käfig darf, und zwar, bevor die strenge Fastenzeit beginnt." Mit der strengen Sexualmoral der katholischen Kirche liegt die närrische Ausgelassenheit aber bis heute im Clinch.

Wirbelnde Derwische, tanzende Frauen

Auch im Islam stehen Sinnlichkeit und Ekstase im Widerspruch zu vielen Regeln, die von einflussreichen muslimischen Geistlichen vertreten werden, sagt der Ethnologe und Islamwissenschaftler Jürgen Wasim Frembgen. Gerade in der Tradition des Sufismus spielen Musik und Tanz dennoch eine zentrale Rolle.
In der muslimischen Volksfrömmigkeit gibt es Rituale, die in andere Sphären versetzen. Im pakistanischen Sehwan beispielsweise tanzen Männer und Frauen an einem Heiligenschrein, erzählt Frembgen. Dieser Islam der Randständigen werde oft von tonangebenden Strömungen abgelehnt.
Und auch das Judentum kennt Formen einer ekstatischen Hinwendung zum Heiligen. Freude über die Beziehung zu Gott bestimmt den aus Osteuropa stammenden Chassidismus. Gesang und Tanz sind ein lebendiger Ausdruck dafür. Dabei kann auch kollektive Entrückung erlebt werden.

Woher kommt unser Bedürfnis nach Ekstase?

Die Suche nach Ekstase oder Rauschzuständen kann sehr unterschiedlich motiviert sein, sagt die Kulturanthropologin Lena Papasabbas vom Zukunftsinstitut in Frankfurt am Main, die zum Gebrauch von psychoaktiven Drogen geforscht hat: "Möchte ich mich selbst optimieren? Möchte ich das Bewusstsein erweitern? Oder möchte ich mich einfach selbst vergessen?"
Oft könne dieselbe Substanz verschiedene Bedürfnisse erfüllen. Zum Beispiel versuchen Menschen, sich mit LSD in kleinen Dosen leistungsfähiger und kreativer zu machen, andere streben damit nach spirituellen Erfahrungen oder wollen sich persönlich weiterentwickeln, so Papasabbas.
Auf allen Kontinenten seien Höhlenmalereien zu finden, die sehr wahrscheinlich darauf hinweisen, dass Menschen schon sehr früh Psychedelika verwendet haben. "Es scheint etwas Ur-Menschliches zu sein, dass man über den Alltag, über das alltägliche Bewusstsein und Empfinden hinaus möchte", erklärt die Anthropologin. Das sei oft verbunden mit religiösen Erfahrungen, aber in der modernen Welt gehe es auch mit dem Wunsch nach Selbsterweiterung oder mit einer "Neospiritualität" einher.
Benedikt Sarreiter nennt noch einen weiteren Grund für das verbreitete Bedürfnis nach Ekstase: den engen Zeittakt, in den viele Menschen im Alltag eingezwängt sind. "Unser ganzer Alltag ist geprägt davon, dass wir Deadlines haben, dass wir uns an bestimmten Orten zu bestimmten Zeiten einfinden müssen. Und ich glaube, Ekstasen sind ein Ausbruch aus dieser Messbarkeit."
Mit Blick auf die zahlreichen Angebote für Achtsamkeitsseminare spricht Sarreiter von "verdünnten Ekstasen".

Welche Gefahren bringen Ekstasen mit sich?

Historisch betrachtet war die Ekstase immer mit archaischen Gesellschaftsmodellen verbunden, sagt Paul-Philipp Hanske. Deshalb sei sie nicht nur anschlussfähig für linke Gegenkulturen wie etwa die Hippiebewegung, die solche archaischen Gesellschaften romantisiert habe, sondern auch für rechte Bewegungen, die darin eine vermeintlich "naturgegebene Ordnung" wiederentdecken.
Das habe sich auf erschreclkende Weise beim Sturm auf das US-Kapitol gezeigt. Der Mann mit der Büffelmütze, der zum Symbol des aufgepeitschten Mobs wurde, habe sich offensichtlich in einer "profunden Ekstase" befunden, so Hanske. Auch in der neu-archaischen "Anastasia"-Bewegung, die ein bäuerliches Leben in kleinen Gemeinschaften auf dem Land wiederbeleben wolle, spielten Tanz-Rituale eine Rolle.
Überhaupt steht die Ekstase auch in Verbindung mit der Psychologie von Gruppen und Massen. So weist der Sozialpsychologe und Konfliktforscher Andreas Zick darauf hin, dass in Extremsituationen gesellschaftliche Normen außer Kraft gesetzt werden können. Indem das Geschehen "zu einem Gruppen-Event" werde, verändere sich das Selbst der Beteiligten:
"Wir werden mit hineingezogen, die Gewalt wird als Erlebnis gefeiert. Die Gewalt wird als eine Emotion, als etwas mit Spaß erlebt, wird in Social Media mit Musik hinterlegt, und in solchen Gruppendynamiken kann Aggression zur Norm werden."

Literatur zum Thema

Paul-Philipp Hanske, Benedikt Sarreiter: "Ekstasen der Gegenwart. Über Entgrenzung, Subkulturen und Bewusstseinsindustrie"
Matthes und Seitz, Berlin 2023
351 Seiten, 28 Euro

Jürgen Wasim Frembgen: "Magie und Ekstase. Kleine Kulturgeschichte des unbekannten Islam"
Herder Verlag, Freiburg 2022
160 Seiten, 16 Euro

Jürgen Wasim Frembgen: "Sufi Hotel. Aufzeichnungen aus den Untiefen einer Megacity"
Verlag Schiller & Mücke, Tübingen 2022
180 Seiten, 24 Euro

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