Achtsamkeit in der Arbeitswelt

Schwierige Chefs lassen sich nicht wegatmen

08:39 Minuten
Illustration: Ein Angestellter im Büro sitzt im Schneidersitz auf seinem Tisch.
Meditieren für mehr Effizienz? © imago / Ikon Images / Redseal
Von Christian Röther · 13.03.2022
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Achtsamkeit ist in Büros und Konferenzräumen angekommen: Manche Unternehmen bieten ihren Belegschaften Meditationspausen und Atemübungen an. Doch was bringt das Ganze und hat das noch etwas mit Buddhismus zu tun?
Wer gerade meditiert, kann kein Auto zusammenschrauben. Wer seinen Atem beobachtet, kann dabei nicht die Börsenkurse im Auge behalten. Und während einer Yogaübung kann man keine Urlaubsreise verkaufen. Warum also sollten Unternehmen ihren Angestellten während der Arbeitszeit solche Achtsamkeitspausen gönnen?
"Weil Unternehmen, die nachhaltig und weiter denken, gelernt haben, dass Wertschätzung Wertschöpfung bedeutet und nicht das Gegenteil", sagt die Achtsamkeitstrainerin Caroline Stiller. Sie arbeitet als Beraterin und Coach in Kiel. Einer ihrer Schwerpunkte ist achtsames Arbeiten.

Kurze Pausen als Geschenk ans Team

Stiller berät und schult Unternehmen, vom Management bis zum einfachen Angestellten. Denn die Arbeitszeit, die Unternehmen für Achtsamkeitskurse freiräumen – oder auch nur für ganz kurze achtsame Impulse – sei keineswegs ökonomisch verschwendet, im Gegenteil:
"Der Moment, den ich mir zwischendurch nehme, der mir vielleicht zunächst mal aus meiner eigenen Bewertung heraus nicht zusteht oder den ich jemand anderem 'stehle', ist möglicherweise eigentlich ein Geschenk, das wir anderen machen."
Ein Geschenk, weil viele Menschen durch Achtsamkeitsübungen konzentrierter arbeiten könnten, und dazu täten sie auch noch etwas für ihre Gesundheit, sagt Stiller – und gegen den Stress. "Und wenn ich weniger gestresst bin, mache ich möglicherweise weniger Fehler. Es gibt weniger Reibungsverluste im Team durch Konflikte."
Letztendlich hätten alle etwas davon: das Unternehmen, die Angestellten und die Kundinnen und Kunden. Mit dieser Ansicht ist Caroline Stiller nicht allein. Der Berliner Achtsamkeitslehrer Gerald Blomeyer findet es wichtig, "dass der persönliche Wachstumsschritt und der Wachstumsschritt der Firma in einem Zusammenhang gesehen werden."

Drei Minuten, um den Geist frisch auszurichten

Gerald Blomeyer wurde in England geboren, ist in Neuseeland und Deutschland aufgewachsen. In Hamburg hat er den Buddhismus studiert, später ging er für acht Jahre nach Indien und Nepal und vertiefte sein Wissen über Meditation und Achtsamkeit. Heute arbeitet auch Blomeyer mit Wirtschaftsunternehmen.
"Die Kunden sind sehr unterschiedlich", sagt er. "Eine Firma in Hamburg hat mich gebeten, jeden Tag eine Einstimmung zu machen, indem man sagt: Jeden Tag machen wir 15 Minutenlang eine Meditation oder eine geistige Ausrichtung, um ein Thema zu behandeln. Und das machen wir erst mal über eine Woche und sehen: Was wird danach gebraucht?"
Eine kleine Übung, die oft Großes bewirke, sagt Blomeyer, sei eine Dreiminutenmeditation direkt am Arbeitsplatz – etwa vor dem Computerbildschirm, "wo man sagt: Mein Kopf ist einfach zu, ich weiß nicht, wie es weitergeht. Und dann sagen Sie: Okay, jetzt mache ich eine kleine Atemübung. Jetzt komme ich in den Körper, jetzt atme ich im Bauch. Jetzt schüttele ich mich mal aus, bewege mich ein bisschen und sage: Jetzt richte ich meinen Geist frisch aus, und dann gehe ich an die Arbeit."

Vom Buddhismus völlig losgelöst

Besonders buddhistisch klingt das erst mal nicht. Dabei ist diese Form der Achtsamkeit durch die fernöstliche Religion so bekannt geworden. Sie ist Teil einer zentralen Lehre des Buddhismus, des "Achtfachen Pfades", der die Menschen zur Erlösung führen soll. Was buddhistische Achtsamkeit genau meint, ist schwer zu umschreiben. In etwa: einen menschlichen Geist, der sich vollkommen bewusst ist, was jetzt gerade in ihm vorgeht. Um diesen Zustand zu erreichen, gibt es verschiedene Übungen - diese könnten aber auch unabhängig von dem religiösen Hintergrund praktiziert werden, meint der Berliner Coach: "Sie können die buddhistische Philosophie vollkommen weglassen."
Diese Ansicht ist unter Achtsamkeitslehrenden weit verbreitet, und der wohl wichtigste Impulsgeber dafür ist der US-Amerikaner Jon Kabat-Zinn. Der Naturwissenschaftler untersucht seit mehr als 50 Jahren, wie sich ursprünglich buddhistische Achtsamkeitsübungen auf die Gesundheit auswirken. Inzwischen gibt es Kurse nach Kabat-Zinns MBSR-Methode auf der halben Welt. MBSR, das steht für Achtsamkeitsbasierte Stressreduktion.
Auch Caroline Stiller aus Kiel arbeitet nach dieser Methode, die inzwischen völlig losgelöst vom Buddhismus unterrichtet wird. "Das ist sicherlich auch der Grund dafür, dass es heute so weit verbreitet ist", sagt Stiller. "Weil es damit für jedermann zugänglich ist – egal, aus welchem kulturellen oder religiösen Kontext ich komme."

Innere Freiräume im vollen Terminkalender

Zugleich sei die Geisteshaltung hinter der Achtsamkeit auch nie exklusiv buddhistisch gewesen, meint die Trainerin: "Das gibt es in unserem Kulturkreis auch, und das hat nichts mit dem Buddhismus zu tun. Das war das Gebet. Das war ganz banal das Abends vor dem Feuer sitzen und in die Flammen gucken. Wo wir nichts tun." Nur sei diese Form der Achtsamkeit in der westlichen Welt nach und nach verlorengegangen – und komme jetzt über den Buddhismus zurück.
Achtsame Atemübungen gibt es auch im Christentum – das sagt auch der Jesuit Michael Bordt. Zum Beispiel bei den Meditationen im Jesuitenorden: "Am Anfang wird immer mindfulness geübt, auch wenn das dann nicht so gelabelt wird. Es geht darum, den eigenen Atem wahrzunehmen und immer wieder zurück zum eigenen Atem zu kommen."
Michael Bordt nutzt lieber den englischen Begriff "mindfulness", weil die deutsche Übersetzung Achtsamkeit missverständlich sei. Besser passe Geistesgegenwart. Bordt ist Professor an der Hochschule für Philosophie in München, die vom Jesuitenorden betrieben wird. Dort ist Bordt Vorstand des Instituts für Philosophie und Leadership. Er berät auch Manager verschiedener großer Unternehmen. Die wüssten meist ganz genau, warum sie in ihren vollen Terminkalendern Zeit freischaufelten für geistige Übungen: "bei dem ganzen Druck und bei der ganzen Verantwortung zu beginnen, sich selbst einen inneren Freiraum zu schaffen, Freiheiten zu erleben."

Strukturelle Probleme nicht duch Achtsamkeit lösbar

"Wir meditieren, damit wir kreativer sind, damit wir besser mit Druck umgehen können und so weiter", sagt Bordt. Achtsamkeitsübungen könnten theoretisch allen Menschen guttun, im Unternehmenskontext halte er sie allerdings nicht auf allen Ebenen für sinnvoll: "Die Erfahrung, die wir am Institut für Philosophie und Leadership gemacht haben, ist: Je tiefer sie in ein Unternehmen hineingehen, desto problematischer wird die Meditation unter Umständen."
Michael Bordt wurde auch schon für Kurse mit Angestellten gebucht. Doch anders als ihre Vorgesetzten hätten diese teils nicht viel mit den geistigen Übungen anfangen können:
"Die haben dann ganz zu Recht gesagt: Warum soll ich eigentlich meditieren und zur Ruhe kommen oder mich mit mir selbst auseinandersetzen? Die Schwierigkeiten, die ich im Unternehmen habe, liegen nicht daran, wie ich zu den Dingen stehe, sondern die liegen in den Strukturen, die liegen in den schwierigen Chefs und so weiter. Und da ist was dran, finde ich."

Meditation beim Geschirrspülen und Wäscheaufhängen

Deshalb warnt der Jesuit, Hochschullehrer und Unternehmensberater, "dass Meditation missbraucht werden kann, um die Leute in Wirtschaftsunternehmen jetzt noch gefügiger zu machen, oder die strukturellen Probleme zu ihren privaten Problemen zu machen, die man eben liebevoll anschauen soll in der Meditation oder so. Das finde ich hochproblematisch, weil man da die strukturellen Fragen, die politischen Fragen nicht thematisiert, sondern diese strukturellen Dinge individualisiert."
Achtsamkeit sei in der Arbeitswelt also kein Allheilmittel. Trotzdem betont auch Michael Bordt: "Es ist tatsächlich so, dass man deutlich effizienter und klarer arbeiten kann, wenn man viel meditiert."
Und was, wenn zwischen Job, Familie und Hobbys keine Zeit bleibt, um minutenlang den eigenen Atem zu beobachten? Ausreden zählen nicht, meint Caroline Stiller: "Was wir immer haben, ist die Zeit, die Dinge, die wir jetzt tun, mit voller Aufmerksamkeit zu tun. Dann ist das eben meine Wäsche-Aufhäng-Meditation, meine Spülmaschinen-Ausräum-Meditation und meine Gehmeditation die Treppen rauf."
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