Beim Schamanen in Berlin

Jenseits von Räucherstäbchen und Federkitsch

17:06 Minuten
Eine Frau meditiert in der Natur, sie greift mit der Hand nach einem Sonnenstrahl in einem Baum.
Schamanismus ist ein schwer greifbares Phänomen, das hierzulande zwischen Esoterik, Astrologie, Alternativmedizin und Spiritualität angesiedelt ist. (Symbolbild) © imago / fStop Images / Ralf Hiemisch
Von Magdalena Neubig · 19.03.2023
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Geheimnisvolle Medizinmänner, die die Trommel schlagen - an so etwas denken bei Schamanismus viele. Doch moderne Schamanen sind anders. Wie sie arbeiten und was sie bewirken können? Ein Selbstversuch.
Meine Reise ins Reich des Schamanismus beginnt in der S1 Richtung Berlin-Frohnau. Ich bin unterwegs zu Klaus Ulbricht, einem Mann, der sich selbst als „Schamane“ bezeichnet.
Wenn ich dieses Wort höre, dann denke ich an Medizinmänner, die im Schein eines Lagerfeuers auf Trommeln schlagen. Ich denke an den Stoff, aus dem Fantasy-Romane und Filme gemacht sind. Irgendwie geheimnisvoll, übernatürlich.

Socken mit kleinen Pizzastückchen drauf

In Frohnau angekommen, öffnet mir Klaus die Tür, in Jeans, schwarzem Rollkragenpulli und blauen Socken mit kleinen Pizzastücken drauf. Im Hintergrund läuft eine fast schon sphärische Musik.
Klaus beschäftigt sich seit etwa zwölf Jahren beruflich mit Schamanismus. Seine „Behandlungszimmer“, wie er sagt, sind in seinem Wohnhaus in Frohnau, in dem er gemeinsam mit seiner Frau lebt.
Während uns Klaus Ingwertee aufbrüht, habe ich Zeit, mich im Wohnzimmer umzuschauen. Alles ist weiß und hell, schlicht und stilvoll eingerichtet. Folklore und Räucherstäbchen sind nicht so sein Ding, sagt er. Wenn man durch die Fensterfront in den Garten guckt, ist es, als würde man in einen Park schauen, so groß sind die Bäume dort.

Reise in eine „nichtalltägliche Realität“

Mit den Klischees, die sich um den Begriff des Schamanen ranken, hat auch Klaus seine Probleme. Er hat seine eigene Definition: „Der Schamane ist immer der Heilbegleiter. Der Schamane ist nicht der, der mich heilt, sondern der, der für mich stellvertretend in eine Welt geht, um dort meine Dinge zu regeln.“
Schamanen reisten auch heute noch in eine sogenannte nicht alltägliche Realität, um dort aufzuspüren, was für Blockaden, Zustände, Erfahrungen ein Mensch im Unbewussten gesammelt habe, die dort nicht mehr hingehörten. Das Wegräumen dieser Blockaden sei dann Gemeinschaftsarbeit.
Klaus hat ursprünglich in der digitalen Medienbranche gearbeitet. Irgendwann hatte er dann eine Krise, weil er das Gefühl hatte, sein Leben ist ein einziges „Vorangerenne“, bei dem sich alles nur noch um Performance dreht.  Er wollte wieder mehr nach innen schauen und begann sich für Schamanismus zu interessieren.

Die Nationalsozialisten missbrauchten schamanische Symbole

Im Lauf der Jahre hat er dann mehrere schamanische Ausbildungen gemacht, in mittelamerikanischem und nepalesischem Schamanismus beispielsweise. Und hat sich dann gefragt: „Wieso renne ich eigentlich woanders hin? Was ist hier eigentlich mit Schamanismus?“
Erst mal habe er die Antwort bekommen: Hier gibt es so etwas nicht. Das habe ihn stutzig gemacht. „Bis ich dann gemerkt habe, dass es natürlich einen einheimischen Schamanismus gibt. Aber da läuft man relativ schnell Gefahr, in eine Ecke geschoben zu werden, wo man nicht hinmöchte. Da gibt es den slawischen, den keltischen, den germanischen Schamanismus“, erklärt er.
Viele dieser alten Rituale – Fackeln, Runen, Feuer – seien von den Nationalsozialisten missbräuchlich verwendet wurden und dadurch für die heutige Zeit unbrauchbar geworden, sagt er.

Schamanismus als "Urreligion"

Gerade weil Schamanismus überall in der Welt anders gelebt wird, ist eine eindeutige Definition des Phänomens schwierig. In der Religionswissenschaft wird es als eine Art Urreligion verstanden, als ursprüngliche Form der Verbindung des Menschen mit dem Transzendenten, erklärt Gerhard Mayer. Er ist Psychologe und hat sich in seiner Arbeit am privaten Forschungsinstitut für Grenzgebiete der Psychologie und Psychohygiene mit Schamanismus beschäftigt:

„Der Schamane, die Schamanin, ist sozusagen die Mittlerfigur zwischen dem Irdischen, der Alltagsrealität und der 'anderen Realität' - eben der Geister, Götter und so weiter.“

Ob nun Religion oder nicht, der Schamanismus hat eine uralte Tradition. Roland Urban von der Foundation for Shamanic Studies Europe, ebenfalls Psychologe und außerdem selbst schamanisch Praktizierender, sagt: „Es gibt Funde, die zumindest 30.000 bis 40.000 Jahre zurückreichen und auf schamanische Aktivitäten hinweisen.“

Trancezustände und Glaube an belebte Natur

Laut Gerhard Mayer gibt es zwei Charakteristika: Das Versetzen in Trance. Sich in veränderte Bewusstseinszustände zu begeben, sei sozusagen die Eintrittskarte zur anderen Realität. Und: Die Natur als belebt zu betrachten, beziehungsweise die Vorstellung, dass alles mit allem irgendwie verbunden ist.
Hierzulande ist Schamanismus irgendwo zwischen Esoterik, Astrologie, Alternativmedizin und Spiritualität angesiedelt. Manche der schamanisch Praktizierenden bezeichnen sich als Heiler, manche als Kartenlegerin, manche behaupten von sich, dass sie wahrsagen können. Andere sprechen von Energiemedizin oder vom Kontakt zu Ahnen und von Krafttieren.

Krafttiere, Energiemedizin, Kontakt zu den Ahnen

Auch weil die Übergänge dazwischen so fließend sind, lässt sich kaum sagen, wie groß die eigentliche Schamanismus-Szene ist. Fakt ist, dass die Angebote zunehmen: Allein die Foundation for Shamanic Studies Europe bietet im deutschsprachigen Raum pro Jahr rund 100 Seminare für Interessierte an, sagt Roland Urban.
Manche der Angebote machen auf mich einen seriösen Eindruck, andere wiederum finde ich ziemlich schräg. Zum Beispiel, wenn da auf den Webseiten von Mondblutungszeremonien oder „Geistchirurgie“ die Rede ist.  
Porträt von Klaus Ulbricht
Der Schamane Klaus Ulbricht sieht sich nicht als Heiler, sondern als "Heilbegleiter". © privat
Klaus Ulbricht hat sich in seiner schamanischen Arbeit auf zwei Praktiken spezialisiert. Zum einen geführte Meditationen, also jemanden in einen tiefen Zustand zu führen, um dort auf innere Bilder zu stoßen, erklärt er.

"Der Atem ist die Sprache der Seele"

Zum anderen die Trance: Ihm zufolge gibt es zig Methoden, um in die Trance zu kommen - über trommeln, tanzen, Sex, manche Praktizierende nehmen auch Drogen. Klaus greift bei seinen Klientinnen und Klienten aber auf keine dieser Methoden zurück.
Er setzt darauf, den Menschen zu helfen, durch bewusstes Atmen in Trance zu gelangen. Es gehe darum, „den Atem wieder machen zu lassen. Der Atem ist in vielen Kulturen mit der Seele verbunden. Der Atem ist die Sprache der Seele.“
Klassische Medizin und Naturwissenschaften sind für ihn genauso notwendig wie alternative Methoden. Wenn jemand sich den Arm gebrochen habe, brauche es womöglich Platten und Schrauben. Wenn tiefere Ebenen betroffen seien, könne eine Arbeit mit dem Körper, durch Berührung oder durch „anderen, feinstofflichere Vorgehensweisen“ helfen.

Erst mal nur miteinander reden

Für meinen Selbstversuch wäre eine Atem-Trance wohl etwas viel für das erste Mal beim Schamanen, deshalb sprechen wir erst mal nur miteinander: „Du hast mir gerade eine Menge Fragen gestellt, die wahrscheinlich die Menschen da draußen interessieren" sagt Klaus. "Ich glaube, wichtig wäre, dass du irgendwann mal Fragen stellst, die dich interessieren.“
Ich gebe zu, mir fällt es ganz schön schwer, aus meiner Journalistinnenhaut zu schlüpfen: "Ich glaube, ich mag diesen Job auch, weil ich mehr über andere Leute erfahre als ich preisgeben muss, weißt du, was ich meine?“

Mit dem Pendel, die Chakren erkunden

Klaus versucht derweil, mit einem Pendel herauszufinden, wie es um meine Chakren, also meine Energiezentren im Körper steht. Wir sind schnell mitten in einem Gespräch über meine Jugend, Beziehungen, Sexualität. Klaus weist mich darauf hin, dass ich ganz oft von ‚man‘ statt von ‚mir‘ rede.
Der Schamane sei eigentlich ein Seher. Er will reinschauen, hinter den Vorhang schauen, wie es Klaus sagt. Und so viel muss ich zugeben, Klaus ist ein guter Beobachter. Was er anspricht, trifft meist ins Schwarze. An einer Stelle in unserem Gespräch kommen mir beinahe die Tränen.
Er sagt mir nicht, was richtigerweise zu tun wäre: „Ich sage dir nur, ich weiß nicht, warum ich das machen wollen würde, dass ich mich mehr in meinem Kopf aufhalten würde als in meinem Körper, was du aber ganz offensichtlich tust. Deshalb würde ich gern wissen, warum machst du das?"

Wie ein Gespräch beim Therapeuten

So in etwa stelle ich mir auch ein Gespräch beim Therapeuten vor. Klaus ist aber eben kein Psychotherapeut, sondern Schamane. Entsprechend darf er keine Diagnosen stellen. Eine große Verantwortung hat er dennoch, finde ich. Denn die Menschen vertrauen ihm ja oft psychische oder körperliche Leiden an und er muss im Zweifel rechtzeitig erkennen, ob jemand vielleicht doch eher psychotherapeutische oder sogar psychiatrische Hilfe braucht oder eben dringend einen Arzttermin.
Die Frage, wie man gewissenhafte, schamanisch Praktizierende von Scharlatanen unterscheiden kann, habe ich auch Roland Urban von der Foundation for Shamanic Studies Europe gestellt. Da Schamanismus ja kein anerkannter Berufstand ist, unterliegt die Arbeit der Praktizierenden keinen Standards oder gar behördlichen Kontrollen.

Überteuerte Angebote als Warnsignal

Doch es gebe Warnsignale: wenn viel Geld verlangt wird und wenn  schamanisch Praktizierende manipulativ auftreten, den Klienten sagen, was richtig oder falsch ist, oder ihnen dogmatisch anmutende Lehren übermitteln, sagt Urban.
Psychologe Gerhard Mayer vom Institut für Grenzgebiete der Psychologie und Psychohygiene warnt zudem von überzogenen Heilungsversprechen und davor, dass Abhängigkeitsverhältnisse entstehen könnten.
Klaus und ich haben inzwischen unser Gespräch beendet und er freut sich, dass ich endlich richtig bei ihm angekommen bin, wie er sagt. Wir beschließen, dass ich noch eine energiemedizinische Behandlung ausprobiere. Ich lege mich mit dem Rücken auf eine Behandlungsliege. Erst mal will er, ohne mich zu berühren, durchchecken, was mein Energiesystem macht. Danach legt Klaus seine Hände auf meinen Kopf, meine Stirn, mein Schlüsselbein, meinen Bauch, meine Füße. Manchmal legt er nur eine Hand auf, manchmal beide.

Durch Handauflegen Chakren verbinden

Er versucht so, verschiedene meiner Chakren miteinander zu verbinden, von denen er glaubt, dass sie nicht im Gleichgewicht sind.
Das alles ist wahnsinnig entspannend. Mir kommt jegliches Zeitgefühl abhanden. Ich konzentriere mich auf meine Atmung, meine Gedanken schweifen ab. Irgendwann nehme ich Klaus neben mir gar nicht mehr wahr, obwohl ich natürlich weiß, dass er dort steht. Meine Hände kribbeln, meine Füße werden warm. Selbst wenn er seine Hand wegnimmt und an eine andere Stelle legt, bilde ich mir ein, sie noch an der vorigen Stelle zu spüren.
Mit der energiemedizinischen Behandlung geht mein Aufenthalt bei Klaus zu Ende. Ich fühle mich, ehrlich gesagt, ein bisschen neben der Spur. In der S-Bahn zurück in die Berliner Innenstadt werde ich plötzlich hundemüde.

Die Selbstheilungskräfte anregen

Psychologe Gerhard Mayer vom Institut für Grenzgebiete der Psychologie und Psychohygiene geht davon aus, dass es Schamaninnen und Schamanen gibt, die zur Heilung beitragen können. Sei es durch Placebo-Effekt oder durch Anregen der Selbstheilungskräfte. Für viele Menschen sei es schlicht auch eine Alternative zu unserem Gesundheitssystem, mit dem sie nicht zufrieden seien. Beispielsweise, weil der Mensch dort wie eine Maschine betrachtet werde, die repariert werden müsse.
Und er sieht noch einen anderen Grund, warum Menschen Schamanismus attraktiv finden: Manche hätten genug von der Entzauberung der Welt durch die Naturwissenschaften.
Auch Roland Urban von der Foundation für Shamanic Studies Europe hält Wissenschaft und Spiritualität nicht für Widersprüche: Naturwissenschaft und Technik hätten es wahnsinnig weit gebracht, doch sie könnten nicht alle Fragen beantworten: „Wir alle haben spirituelle Erlebnisse im Laufe unseres Lebens. Und diese werden oftmals unbeantwortet stehengelassen.“ Und da könnten spirituelle Ansätze wie der Schamanismus zum Teil überzeugende Antworten liefern.

Die Erstausstrahlung des Beitrags war am 6. März 2022.

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