"Anastasia"-Sekte in der Ostprignitz

Völkische Siedler bedrängen Anwohner

11:25 Minuten
Blick auf drei Pferde, die auf einem Feld im Nebel weiden.
Die Ostprignitz ist dünn besiedelt. Im Ort Grabow haben sich in der reizvollen Landschaft Anhänger der "Anastasia"-Bewegung angesiedelt. © imago / Jürgen Ritter
Von Christoph D. Richter · 22.11.2021
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Sie siedeln in abgelegenen, entleerten Regionen, inspiriert von Büchern des Autors Wladimir Megre: Anhänger der „Anastasia“-Sekte zeigen auch in Brandenburg Präsenz. Bewohner von Grabow fühlen sich durch die rechten Siedler eingeschüchtert.
Die Prignitz ist ein verträumter, wenig besiedelter Landstrich auf halber Strecke zwischen Hamburg und Berlin. Der Wind peitscht den November-Regen über hügelige Wiesen, Auen und Felder.
Hier liegt auch das 200-Seelen-Dorf Grabow bei Blumenthal, wie der Ort exakt heißt. Seit mehreren Jahren sorgt er bundesweit für Aufsehen. Weil sich hier Anhänger der sogenannten "Anastasia"-Bewegung niedergelassen haben.
Seit Jahren siedeln sich rechte Ökos in abgelegenen Regionen an. Sie pflanzen Biokartoffeln, die Männer tragen Leinenhosen, die Frauen Rauschekleider und lange Zöpfe.
Das alles basiert auf Büchern des russischen Autors und Unternehmers Wladimir Megre. Im Zentrum seiner Bücher steht Anastasia, die als Botschafterin eines uralten Volkes beschrieben wird und deren Nachkommen und Anhänger Familienlandsitze gründen sollen.

"Anastasia"-Bewegung in Deutschland

Daraus entsprungen ist die "Anastasia"-Bewegung. Sie kommt aus Russland und verbindet ökologische Ansätze, sozialutopische Lebensgemeinschaftsformen, antidemokratische Strömungen und Formen der Verschwörungsesoterik.
Auch im deutschsprachigen Raum gibt es inzwischen Anhänger dieses Gedankenguts. Ihr Ziel: Kulturelle Landnahme in entlegenen, entleerten Regionen. Mittlerweile ist das für den Verfassungsschutz in Brandenburg ein Thema.
„Grundsätzlich ist die Stimmung in Grabow gespalten“, sagt Karin – die ihren richtigen Namen nicht nennen will. „Wir haben Leute, die haben Angst. Wir haben Leute, die sagen, so schlimm sind sie ja gar nicht. Und wir haben Leute, die sagen: 'Vorsicht, macht mal eure Augen auf und guckt mal genauer hin.' Das macht das Leben in Grabow ein bisschen schwierig.“

Die Stimmung in Grabow ist angespannt

Schnell wird deutlich: Die Stimmung ist angespannt. Karin schätzt, dass in Grabow derzeit knapp zwei Dutzend Menschen der „Anastasia“-Sekte angehören.
Die Mittfünfzigerin, die seit 1985 in Grabow bei Blumenthal wohnt, wirkt erschöpft und frustriert. Die Situation in Grabow – sagt sie noch – lege sich auf die Seele der Menschen:

"Spinner, dachte ich zu Anfang. Aber sie haben sich ja schon ganz klar zu erkennen gegeben, dass sie nicht nur Öko-Spinner sind", sagt sie. "Nach außen wird immer präsentiert: Wir wollen nur unsere Biokartoffeln anbauen und nachhaltig leben."
Das sei aber nicht so, sagt Karin. Wer genau hinschaue, erkenne schnell, dass die Siedler recht massiv aufträten. „Sie gehen gezielt zu Menschen hin, bei denen sie davon ausgehen, die sind nicht so stark. Und denken, die könnte man beeinflussen. Dann stehen die da und klingeln. Sagen: 'Pass mal auf, ich habe gehört, du hast ein Problem mit meiner Gruppe.' Da wird versucht, Druck auszuüben. In dem man sich einfach hinstellt, sehr selbstbewusst, und sagt: 'So, du kennst mich doch schon ewig, wir müssen jetzt mal Tacheles reden.'"
Seitdem es die Neu-Zugezogenen gebe, herrsche im Dorf zunehmend ein Klima der Einschüchterung und Angst, sagt Karin noch. „Ich würde mal sagen, dass früher das Dorf geselliger war, dass bei Dorffesten, Veranstaltungen, viel mehr Leute dort waren, und jetzt mittlerweile sich nur noch ein paar Leute trauen, zum Dorffest zu gehen." Andere sagten: "Lieber nicht, wer weiß, mit wem ich da in Berührung komme.“

Völkische und antisemitische Ideen

Rechte Ökos, rechtsesoterische Land-Hipster und Alt-Hippies zieht es zunehmend in die brandenburgische Provinz, wie die Prignitz. Naturnah und ökologisch auf dem Dorf leben: So schön und idyllisch es klingt, dahinter verbergen sich auch völkische und antisemitische Ideen, sagt die Historikerin Laura Schenderlein. Sie arbeitet im Mobilen Beratungsteam bei „Demos“, dem „Brandenburgischen Institut für Gemeinwesenberatung“.
„Es gibt in der extremen Rechten und in den jeweiligen Szenen davon schon immer Pläne für ein alternatives Leben auf dem Land", sagt Schenderlein. "Die waren mehr oder weniger erfolgreich in den vergangenen Jahrzehnten. Aber es war davon auszugehen, dass es in Brandenburg Projekte gibt, die das aufgreifen. Die in irgendeiner Art und Weise Siedlungen vorantreiben.“
Hinter der Öko-Idylle in Grabow bei Blumenthal steckt in einigen Fällen die rechtsesoterische "Anastasia"-Sekte. Grundlage ist die zehnbändige Roman-Reihe „Anastasia – Tochter der Taiga“ von Megre. Er formuliert darin die Idee einer „natur-harmonischen Lebensweise“. Dazu sind „Landsitze“ aufzubauen. Familien erhalten im Gegenzug einen Hektar Land.
Klingt harmlos, ist es aber keinesfalls, sagt Laura Schenderlein. „Der Kern der Idee ist die älteste Verschwörungstheorie: die Übermacht der Juden, die da im Hintergrund steht. Das ist was, was an verschiedenen Stellen der Bücher zum Tragen kommt.“

Rückwärtsgewandt und demokratiefeindlich

Siebzehn Anastasia-Familienlandsitze soll es nach Meinung von Rechtsextremismus-Experten mittlerweile bundesweit geben. Ein rückwärtsgewandtes, antimodernes und demokratiefeindliches Siedlungsprojekt.

Einer der Akteure in Grabow bei Blumenthal ist der aus dem Ort stammende, öffentlich bestellte Vermesser und frühere Ortsvorsteher Markus Krause. Zusammen mit seiner Frau hat er im April 2014 das Siedlungsprojekt „Goldenes Grabow“ gegründet.
Zwei Jahre später hat man nach eigenen Angaben die ersten Flächen gekauft, finanziert mit privaten Darlehen und Spenden von etwa 170.000 Euro. Nachzulesen auf seiner – in diesem Jahr abgeschalteten – aber immer noch einsehbaren Webseite.
„Es ist großartig, dass wir die erste Phase der Zahlung gemeinsam geschafft haben", heißt es dort. "Jetzt geht es um die Abzahlung. Und dann geht es um weitere Flächen in unserer Gemarkung und um die Unterstützung weiterer Anastasiadörfer in unserem wunderschönen Land.“

Auf Nachfrage des Deutschlandradios, ob es das Siedlungsprojekt noch gibt, antwortet er uns nicht selbst, sondern sein Kölner Rechtsanwalt. Er schreibt in einer Mail: „Das Projekt 'Goldenes Grabow' ist beendet. Die Gemeinschaftsstrukturen sind aufgelöst. Die erhobenen Extremismusvorwürfe sind falsch und haben unseren Mandanten tief getroffen.“

Zweifel an der Auflösung

„Das hört sich jetzt hart an, aber da kriege ich die Krise“, sagt Anwohner Robert Scholz. Er wohnt im Nachbardorf Blandikow. Auch er schätzt, dass der „Anastasia“-Sekte in Grabow etwa zwei Dutzend Menschen angehören.
Ein Teil wohne auf einem Feld am Rande von Grabow in fest stationierten Bauwagen und tipiartigen Zelten, erzählt er. „Der einzige Sinn und Zweck des Gerüchtes kann nur sein, wieder vom Thema abzulenken und zu sagen: 'Ja, was regt ihr euch auf, die lösen sich doch auf.' Wer es so sagt, der soll es belegen.“
Ein Blick in das Handelsregister: Das „Goldene Grabow Dorferneuerungen EWIV“ wird beim Amtsgericht Berlin-Charlottenburg unter der Nummer HRA 50836 geführt.

Unangemeldeter Besuch beim "Anastasia"-Kritiker

Anwohner Robert Scholz sitzt für die Fraktion „Lebens(t)raum Dorf“ in der Gemeindevertretung Heiligengrabe. Er nennt sich selbst einen Kritiker der rechtsesoterischen Öko-Bewegung „Anastasia“. Weshalb er auch schon mal – erzählt Scholz – unangemeldeten Besuch von Krause bekommen habe. „Er war persönlich fast vor einem Jahr vor der Tür.“
Während Scholz erzählt, reibt er sich nervös die Hände, ruckelt auf dem Stuhl. Warum er und seine Frau von Krause besucht wurden, verstehe er bis heute nicht. „Da wir nie eine Information bekommen haben, was die Grundlage seiner Äußerung, seiner Mutmaßungen sind, haben wir gesagt, da sehen wir den Sinn eines Gespräches nicht.“
Für Scholz persönlich fühlt sich der unangemeldete Besuch von Markus Krause wie eine Art Drohgebärde an, sagt er. „Hallo … Ich hab‘ dich auf dem Kieker, ich weiß, wo du wohnst. Reiß dich zusammen, so ungefähr. Das ist für mich schon Einschüchterung.“
Der Bürgermeister in Heiligengrabe, zu dem Grabow gehört, ist Holger Kippenhahn von der Linkspartei. Er beobachte die Aktivitäten der rechtsesoterischen Öko-Siedler, sagt er.
Von einem Klima der Angst und Einschüchterung könne seines Erachtens überhaupt keine Rede sein. „Ich nehme die Stimmung völlig anders wahr, ich kann keine Angst erkennen. Kann wenig dazu sagen.“

Vorteil durch den Beruf?

Es gibt Menschen, die vermuten, dass Krause – ein vom Land „öffentlich bestellter Vermesser“ mit einem eigenen Büro in Pritzwalk – sehr früh Kenntnis davon haben könnte, welche Flächen und Gebäude zum Verkauf stünden. Stimmt das?
„Herr Krause hat aufgrund seiner Berufstätigkeit noch nie in seiner gesamten Laufbahn vorzeitig von einem zum Verkauf stehenden Grundstück in Grabow erfahren“, schreibt sein Anwalt.
Nachfrage beim Innenministerium, die Antwort: „Mit der Position (…) ist keine privilegierte Stellung in Bezug auf den Verkauf oder Kauf von Grundstücken verbunden. (...) Kenntnis zu Grundstücksverkäufen in Heiligengrabe könnte Herr Krause als Vermesser (…) nur in den Einzelfällen erlangen, bei denen Teilflächen von Grundstücken veräußert werden sollen und dafür Vermessungsleistungen erforderlich wären, mit deren Durchführung Herr Krause beauftragt worden wäre.“
Weiter heißt es seitens des Ministeriums: „Das Land Brandenburg ist sich der besonderen Problematik um die Siedlerbewegung in Grabow bewusst. Durch die Aufsichtsbehörde über die Vermesser erfolgt daher eine permanente Beobachtung und Prüfung der Situation, insbesondere in Bezug auf die Einhaltung der Berufspflichten durch Herrn Krause.“
Nach Recherchen des ARD-Magazins Kontraste sollen den Krauses im Umkreis von Grabow bereits mehr als 80 Hektar Land gehören. Der zuständige Landkreis Ostprignitz-Ruppin wollte uns das weder bestätigen noch dementieren. 
Gerne hätten wir mit Markus Krause selbst gesprochen, doch auf unsere schriftlichen Anfragen haben wir von ihm keine Antwort bekommen.
Stattdessen hat uns sein Kölner Anwalt geantwortet, betont, dass unsere Fragen „unsubstantiierte Ausforschungsfragen“ seien, „für die Sie sich weder auf Rechercheergebnisse noch auf Gerüchte berufen, sondern die lediglich Gedankenspiele zu sein scheinen, beantwortet unser Mandant selbstverständlich nicht, was ausdrücklich nicht heißt, dass er die darin enthaltenen Unterstellungen und Spekulationen implizit als richtig bestätigt.“
Klar ist auch, es gibt nicht nur Kritiker der neuen Siedler im Ort. Ein Anwohner sagt: "Was soll ich dazu sagen? Ich komm mit allen gut aus." Auf die Reporterfrage, was er davon halte, sagt der Mann: "Stört mich gar nicht, ich hab nichts dagegen." Man kenne sich seit Jahrzehnten, sagt einer der Nachbarn, den wir im Laufe der Langzeitrecherche kennen gelernt haben.

Bundesweites Netzwerk der "Anastasia"-Bewegung

Die "Anastasia"-Bewegung ist nicht nur in der brandenburgischen Prignitz aktiv. Kein ostdeutsches, sondern ein bundesweit agierendes Netzwerk. Hotspots der „Anastasia"-Bewegung sind neben Brandenburg auch Niedersachsen, Sachsen-Anhalt und Mecklenburg-Vorpommern.
Robert Scholz von der Fraktion „Lebens(t)raum Dorf“ in der Gemeindevertretung Heiligengrabe wünscht sich, dass die Behörden die Aktivitäten der „Anastasia"-Bewegung mehr in den Blick nehmen würden:
„Wird immer viel verlangt von uns als Bürger. Und ich höre immer: Nehmen Sie doch Position ein, beziehen Sie Stellung, Herr Scholz. Aber wenn der Bürgermeister das nicht macht, dann hat man keinen Rückhalt. Dieser Rückhalt fehlt.“
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