Verhasste selbstsüchtige Mutter

03.01.2013
In dem erstmals 1935 erschienenen Roman greift Irène Némirovsky erneut ihr großes Lebensthema auf: Reichtum, Gefühlskälte und hemmungsloser Narzissmus. Hauptfigur Hélène spannt ihrer Mutter den Liebhaber aus purem Kalkül aus.
Seit die Romane der Irène Némirovsky mit großer Verspätung auf Deutsch zu lesen sind, zählt man die ukrainisch-französische Autorin auch hierzulande zu den Großen der Moderne. Bekannt wurde sie durch das postum erschienene Epos "Suite française" (dt. 2005), das sie 1940, kurz vor ihrer Deportation nach Auschwitz niederschrieb. Bis dahin hat Némirovsky, die im Frankreich der 30er Jahre zu den Literaturstars gehörte, im Grunde genommen "ein einziges, ununterbrochenes Manuskript" verfasst, wie ihre Biographen Olivier Philipponnat und Patrick Lienhardt behaupten.

Immer wieder neu variierte die erfindungsreiche Realistin in ihren knapp zwanzig Romanen ihr großes Lebensthema: Reichtum, Gefühlskälte und hemmungsloser Narzissmus. So auch in dem 1935 erschienenen, nunmehr zum ersten Mal auf Deutsch vorliegenden Roman "Die süße Einsamkeit".

Hélène wächst in einer großbürgerlichen Familie, zunächst in der Provinz, dann in St. Petersburg auf. Scheinbar fehlt es ihr an nichts - außer an Liebe. Ihre Mutter, eine selbstsüchtige Person, die sich vor nichts so ängstigt wie vor dem Älterwerden, betrügt den Vater mit wechselnden Liebhabern, vor allem einem jüngeren Cousin. Nach und nach entwickelt die Tochter, die Geborgenheit nur bei einer französischen Gouvernante erlebt, zügellosen Hass auf die selbstvergessene Mutter, gepaart mit Rachsucht, die in ein heimtückisches Spiel mündet. Jung, schön und raffiniert spannt sie der Älteren mit kühlem Kalkül den Geliebten aus.

Während Némirovsky das Innere ihrer Figuren bisher häufig aus verschiedenen Perspektiven dargestellt hat, konzentriert sie sich in diesem Mutter-Tochter-Konflikt im Wesentlichen auf die Innenansicht ihrer jugendlichen Heldin. Voller Zartgefühl, doch auch mit mitleidloser Härte verfolgt sie deren Weg vom unglücklichen, einsamen Kind zur abgebrühten, beinharten Rivalin. Dabei zeigt sie, wie die neurotische Eigenliebe der einen in den haltlosen Furor der anderen umschlägt, wie ähnlich sich die Waffen sind, die beide gegeneinander einsetzen. Einmal mehr belegt der Roman über Narzissmus und Jugendwahn die Qualität der Autorin als scharfe Psychologin. Einmal mehr zeigt sich darin auch ihre ungebrochene Aktualität.

Man spürt, Némirovsky kennt sie alle: die Egozentriker, die nur ihren eigenen Vorteil im Auge haben, die neureichen Aufsteiger, die glücksspielenden Desperados, die Ellbogenmenschen, für die nur eines zählt: Geld - und Liebe, die man zur Not auch kaufen kann. Menschlichkeit, Zuneigung? Weit gefehlt. Doch bei aller kühlen Diagnostik, "Die süße Einsamkeit" ist nicht nur ein zynischer, ein böser Roman. Am Ende gönnt die Autorin ihrer Heldin den Ausbruch in ein selbstbestimmtes Leben.

Der inzwischen auf zwölf Bände angewachsenen Némirovsky-Edition im Knaus-Verlag fügt der Roman ein weiteres Glanzlicht hinzu. Einerseits. Andererseits vermisst man schmerzlich den schlanken, farbenreichen Erzählstil der bisherigen Übersetzerin Eva Moldenhauer. Wenn jetzt "die Hitzigkeit der Dispute von einer so tiefen Dimension" ist wie bei Susanne Röckel, oder wenn die Heldin "ihren Teil" (tut), "um das Maximum an Leidenschaft zu erhalten", dann stören derlei Holprigkeiten empfindlich die schwungvolle Eleganz - ein Markenzeichen Némirovskys, die ihre Romane bislang zu einem süffigen Lesevergnügen machte.

Besprochen von Edelgard Abenstein

Irène Némirovsky: "Die süße Einsamkeit"
Aus dem Französischen von Susanne Röckel
Knaus-Verlag, München 2012
272 Seiten, 19,99 Euro
Mehr zum Thema