Subtile Menschen-Erkundung

21.11.2008
Flucht und Vertreibung ist das Thema der 1931 erschienenen Erzählung "Herbstfliegen". Darin umreißt Irène Némirovsky die Geschichte einer russischen Adelsfamilie, die durch den bolschewistischen Mob von ihrem Landgut vertrieben wird und sich in Paris ein neues Leben aufbaut. Die Biografie der aus der Ukraine stammenden jüdischen Autorin war von Flucht geprägt. 1942 starb sie in Auschwitz.
Das zweite literarische Leben der Irène Némirovsky begann vor drei Jahren, als ihr Roman "Suite française" 60 Jahre nach seiner Entstehung zum ersten Mal veröffentlicht wurde. Die Umstände seiner Entdeckung waren beinahe ebenso sensationell wie das Aufsehen, das dem Buch zuteil wurde. Der Zufall hatte dieses Sittengemälde aus der Zeit der Okkupation ans Licht gebracht, das mit einem Schlag den Blick auf das Frankreich nach der Stunde Null veränderte. Irène Némirovsky schildert darin aus eigener Anschauung die Zeit der deutschen Besatzung jenseits der Legenden von Résistance und Heldenmut. Die staatenlose Jüdin war aus Paris in die Provinz, nach Burgund geflohen, wo sie zwei Jahre lang wie in einer Falle festsaß, bis sie 1942 verhaftet und nach Auschwitz deportiert wurde. Dort starb sie wenig später an Typhus.

1903 als Tochter eines jüdischen Bankiers in der Ukraine geboren, floh sie mit ihrer Familie 1919 vor der Oktoberrevolution nach Paris. Ihr erster Roman über einen jüdischen Ölmagnaten, der ein Opfer der Weltwirtschaftskrise wird, "David Golder", machte sie mit einem Schlag berühmt. Schon kurz nach seinem Erscheinen wurde er verfilmt, ebenso wie ein Jahr später "Le Bal", ein subtiles Psychogramm über eine fatale Mutter-Tochter-Beziehung. Trotz ihrer großen Erfolge – sie veröffentlichte mehr als zehn auflagenstarke Romane und Erzählungen - bekam der Star der Pariser Literaturszene nie die französische Staatsbürgerschaft.

Flucht und Vertreibung ist auch das Thema der kleinen, 1931 erschienenen Erzählung "Herbstfliegen". Auf knapp hundert Seiten umreißt sie die Geschichte einer russischen Adelsfamilie, die durch den bolschewistischen Mob von ihrem Landgut vertrieben wird, über Odessa, Konstantinopel und Marseille nach Paris flüchtet, wo sie ein mühevoll neues Leben beginnt.

Geschildert werden die dramatischen Geschehnisse aus der Warte von Tatjana Iwanowna, der 70-jährigen Kinderfrau. Wie keine andere kennt sie die intimsten Familiengeheimnisse, sie weiß um die Schwächen und Abgründe eines jeden, hat sie doch alle von ihrem ersten Atemzug an durchs Leben begleitet. Obwohl sie eigentlich auf die Seite der marodierenden Bauern gehörte, beschützt sie zunächst das verwaiste Anwesen, folgt ihren einstigen Dienstherren und hilft ihnen dank des in ihrem Kleid eingenähten Familienschmucks zu überleben. In der großen Stadt allerdings findet sich die alte Frau nicht mehr zurecht. Während die Jungen sich haltlos ins Getümmel stürzen und auf die schiefe Bahn zu geraten drohen, wächst ihre Sehnsucht nach der Heimat, nach dem russischen Winter, nach Kälte und Schnee.

Mit großer Empathie gibt Irène Némirovsky die Gefühle dieser entwurzelten, großmütigen, empfindsamen, dabei überaus robusten Seele wieder. Wundervoll, wie sie die alles grundierende Stimmung der Melancholie einfängt - als wäre es ein Epitaph auf eine versunkene Epoche. Doch so wie die an Tolstoi und Tschechow geschulte Erzählerin durchaus auch über die Techniken ihres Jahrhunderts verfügt, über den filmischen Blick etwa, so gehört ihr Mitgefühl allen Figuren, auch den kleinmütigen, eitlen und durchtriebenen. Wie in ihrem zehn Jahre späteren Opus magnum, "Suite française", urteilt sie nicht, auch nicht über einen Überlebenswillen, der allein dem Recht des Stärkeren huldigt. Die subtile Menschenerkundung steht für Némirovsky über aller Moral. Das ist ihre besondere Kunst. Und deswegen ist dieses kleine, zarte, anrührende Buch schon ein ganz großer Wurf.

Rezensiert von Edelgard Abenstein

Irène Némirovsky, Herbstfliegen,
Aus dem Französischen von Eva Moldenhauer,
Manesse-Verlag, Zürich 2008, 96 Seiten, 9,90 EUR