Menschenfreundliche Geschichten

06.02.2012
Wiederentdeckt wurde Irène Némirovsky, die Jüdin ukrainischer Herkunft, 2004 mit dem Roman "Suite francaise". Seither wird das Gesamtwerk der Autorin, die in Auschwitz starb, auch bei uns zugänglich gemacht. In ihren "Meistererzählungen" zeigt sich erneut Némirovskys virtuoses Talent.
Sie ist längst keine Unbekannte mehr. Sechzehn Romane hat sie in ihrem kurzen Leben geschrieben, elf davon sind inzwischen auf Deutsch erschienen. Jetzt versammelt ein Band neun Erzählungen, die zwischen 1934 und 1943 in französischen Zeitschriften veröffentlicht wurden. Darin zeigt sich die ganze Bandbreite von Irène Némirovskys Können. Und darin zeigt sich auch, dass die Verfasserin großer Romane die kleine Form nutzte, um ihr Lebensthema, den Abgesang auf das Bürgertum, immer neu zu intonieren.

Die erste Erzählung, "Rausch", ist eine zutiefst pessimistische Parabel auf die Masse Mensch und auf das, was passiert, wenn der einzelne im großen Ganzen aufgeht. In einer Winternacht versinkt eine ganze Stadt johlend, saufend, massakrierend im Sturm der Revolution, wie das Winterpalais wurden die Weinkeller der Reichen geplündert. Es ist ein Sog, ein Taumel, eine Massenorgie, der auch eine im goldenen Käfig eingesperrte Professorengattin erliegt. Wie ein Spuk ist am nächsten Morgen alles vorbei, die Leichen werden bestattet, die Straßen aufgeräumt, jeder geht seiner Arbeit nach.

Mit eindrucksvoller Wucht beschreibt Némirovsky auch in der letzten Geschichte, wie sich des Menschen wahres Gesicht zeigt, wenn er bedroht ist. Ein Rentier, der nichts im Leben braucht außer einem üppigem Bankkonto samt dem Weitblick, seine Aktien rechtzeitig außer Landes zu bringen, findet sich auf dem Treck wieder, der vor den Nazis aus Paris flüchtet. Wie in "Suite francaise" entfalten sich Szenen von beklemmender Eindringlichkeit.

Als glänzendes Kammerspiel hingegen ist "Sonntag" angelegt, das psychologisch genau von einer Mutter-Tochter-Beziehung erzählt: eine Frau, gefangen in einer Ehe ohne Leidenschaft, ist entschlossen, sich damit abzufinden, bis ihre Tochter von einem ersten heimlichen Rendezvous zurückkehrt. Schmerzlich erkennt die Mutter darin den endgültigen Abschied von ihrer Jugend. Ein Motiv, das die Autorin zur gleichen Zeit im Roman "Jezabel" und in "Der Ball" variiert hat.

Auch wenn sie Heuchler oder die blasierten Neureichen gnadenlos aufspießt, geraten ihre Figuren nie zur Karikatur. Das macht Irène Némirovskys Geschichten so menschenfreundlich. Und bei aller Dramatik des Geschehens, bei aller Melancholie schwingt stets ein leicht ironischer Oberton mit. Wie überhaupt sie virtuos mit allen literarischen Tönen spielt, um von dem zu erzählen, was untergehen wird, von den großen und kleinen Kapitulationen. Ob es die konventionelleren Geschichten sind oder die raffiniert konstruierten, der Band macht sofort Lust darauf, mehr von dieser menschenklugen Beobachterin zu lesen.

Besprochen von Edelgard Abenstein

Irène Némirovsky: Meistererzählungen
Aus dem Französischen von Eva Moldenhauer
Knaus-Verlag, München 2011
226 Seiten, 19,99 EUR
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