Der kennerische Blick vom Rande des Geschehens

17.12.2010
Unter dem Eindruck der deutschen Besatzung in Frankreich schrieb die Irène Némirovsky "Die Familie Hardelot". Die Schriftstellerin mit den jüdisch-russischen Wurzeln erzählt von einem Familienclan im frühen 20. Jahrhundert, der eifersüchtig darauf bedacht ist, seinen Besitz zu wahren und jeden Angriff von außen abzuwehren.
Seit ihr großer Roman "Suite francaise" im Jahre 2004 posthum erschien, wird Irène Némirovskys Werk auch bei uns Buch für Buch entdeckt. Es sind opulent geschriebene Gesellschaftspanoramen aus der Welt des Großbürgertums, der Aufsteiger und Spekulanten wie "David Golder" (1930) und "Die Hunde und die Wölfe"(1940).

Obwohl Némirovsky als Tochter eines Bankiers dieser Welt selbst angehörte, blieb sie zeitlebens Außenseiterin. Denn trotz ihres literarischen Ruhms in den 30er-Jahren wurde der Schriftstellerin mit den jüdisch-russischen Wurzeln die französische Staatsbürgerschaft versagt. Es ist diese doppelte Perspektive, der kennerische Blick vom Rande des Geschehens, der ihre Romane so einzigartig macht.

Auch in "Die Familie Hardelot"- geschrieben unter dem Eindruck der deutschen Besatzung 1940/41 - geht es um einen Familienclan, der eifersüchtig darauf bedacht ist, seinen Besitz zu wahren und jeden Angriff von außen abzuwehren. Als Pierre, der Erbe des Papierfabrikimperiums in der französischen Provinz, nahe dem Ärmelkanal, sich anschickt, Agnès, die Tochter eines Bierbrauers zu heiraten, stehen die Zeichen auf Sturm. Denn er ist längst einer anderen, der aus wohlhabenden Kreisen stammenden Simone versprochen.

In diesem jahrhundertealten, unerschütterbaren System aus standesgemäßen Allianzen, ist Liebe nicht vorgesehen und an eine selbst gewählte, nur dem Gefühl folgende Verbindung nicht zu denken. Dennoch nimmt der junge Liebende in Kauf, aus Sippe und Erbfolge verstoßen zu werden. Aber die eigentliche Katastrophe kommt noch, der Erste Weltkrieg bricht herein und fegt mit einem Schlag alle Gewissheiten, alles Glück, alle "Güter dieser Welt" ("Les biens de ce monde", wie der Roman im Original heißt) hinweg.
Wie in all ihren Romanen braucht Irène Némirovsky nur wenige Kapitel, um ein facettenreiches und lebendiges Bild der einander widerstreitenden Parteien zu zeichnen. Obwohl ihre Sympathien eindeutig aufseiten des liebenden Paares liegen, leuchtet sie mit subtiler Delikatesse auch in die Seelen der machtgierigen Eltern, des Großvaters, eines unversöhnlichen Patriarchen oder der verschmähten Braut. Neben Heuchelei, Selbstgefälligkeit und zielsicher verfolgter Lust an der Rache fördert sie dabei auch Ängste, Schmerzen und zerstobene Illusionen zutage.

Das ist die große Kunst dieser Autorin: Während sie schonungslos die geheimen Beweggründe ihrer Protagonisten enthüllt, bricht sie doch niemals den Stab über ihre Figuren. Sie urteilt nicht, die Menscherkundung steht für sie über aller Moral.
Geschult an den literarischen Traditionen des 19. Jahrhunderts, an Balzacs und Tolstois großen Erzählpanoramen, lässt sie ihre Vorbilder doch dank zeitgenössischer Stilelemente hinter sich. Unverkennbar sind ihre Anleihen bei der Sprache des Films, wenn sie in schnellem Wechsel der Perspektive, die Zeit mal raffend, dann wieder detailfreudig die Szenerie ausmalend, gut 30 Jahre durchmisst. Einmal mehr zeigt sich Irène Némirovsky in diesem atmosphärisch dichten Roman über den Untergang einer Familie als berückende Erzählerin, als eine große Chronistin der Welt von gestern.

Rezensiert von Edelgard Abenstein

Irène Némirovsky, Die Familie Hardelot
aus dem Französischen von Eva Moldenhauer
Knaus-Verlag, München 2010
254 Seiten, 19,99 Euro