30 Jahre Brandanschläge in Mölln

Warum das Stück "Das Erbe" keine Opfergeschichte erzählt

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Das Szenenfoto aus dem Stück "Das Erbe" zeigt drei Bühnenfiguren in der Silhouette, die unter einer großen, qualmenden pyramidenartigen Konstruktion die Hände erheben.
Im Stück "Das Erbe" trauert eine türkischstämmige Familie um den Vater, als die Nachricht von den Brandanschlägen in Mölln hereinplatzt. Sie streiten sich: Bleiben oder gehen? © Krafft Angerer
Nuran David Calis im Gespräch mit Ute Welty · 22.11.2022
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Bei den rassistischen Brandanschlägen 1992 in Mölln töteten Neonazis drei Menschen. Zum 30. Jahrestag hat "Das Erbe" in den Münchner Kammerspielen Premiere: Autor Nuran David Calis erzählt bewusst eine fiktionale migrantische Erfolgsgeschichte.
Am 23. November 1992 warfen zwei Neonazis Brandsätze in zwei von türkischen Familien bewohnte Häuser in Mölln. Die 51 Jahre alte Bahide Arslan, ihre Enkelin Yeliz (10) und deren Cousine Ayse (14) starben. Neun weitere Menschen wurden verletzt.
Regisseur und Autor Nuran David Calis sieht in den Anschlägen einen "Wendepunkt in der Migrationsgeschichte". Er kann sich noch gut an die Angst seiner Eltern damals erinnern, die nach dem Militärputsch in der Türkei nach Deutschland geflohen waren.
Der Regisseur Nuran David Calis steht bei einer Pressekonferenz zu den Nibelungen-Festspielen auf der Bühne.
Nuran David Calis entstammt einer armenisch-jüdischen Familie und inszeniert bereits seit zwanzig Jahren an verschiedenen deutschen Theatern - oft mit Schwerpunkt zu Migrationsgeschichten.© picture alliance / dpa / Uwe Anspach
Mit ihrer Angst sollten sie Recht behalten: Bei einem weiteren rechtsextremistisch motivierten Brandanschlag auf das Haus der Familie Genc in Solingen am 29. Mai 1993 wurden fünf Menschen getötet. Damals habe er an seiner ersten Demonstration teilgenommen, erinnert sich Calis. Es war der Moment, in dem er sich "politisiert" habe.

NSU-Morde, Hanau, Halle: Es wurde schlimmer

Zum 30. Jahrestag von Mölln zieht der Autor und Theatermacher eine ernüchternde Bilanz: "Man muss traurigerweise sagen, dass es sich zum Schlimmeren gewandelt hat." Calis führt dabei die NSU-Tötungsserie und die Anschläge von Hanau und Halle an. Die Politik und die Gesellschaft als Ganzes hätten "falsche Entscheidungen" getroffen. Dazu zählt er die Verschärfung der Asylgesetze genauso wie das "Hinterherplappern dieser Diskursverschiebung im rechten Bereich". In der Folge sei mit der AfD eine "rechtsradikale Partei" in den Bundestag eingezogen.
Wach und wehrhaft zu bleiben, aufzuklären und damit Rassisten keinen Zulauf zu geben: Diese Haltung rechnet Cali den Opferfamilien, insbesondere der Möllner Familie Arslan, hoch an. Deren Engagement, auch beim Gedenken an die Anschläge, sei "bewundernswert".
In seinem Theaterstück "Das Erbe", das die Münchner Kammerspiele am 30. Jahrestag uraufführen, erzählt Cali entschieden keine Opfergeschichte. Vielmehr stehe eine "migrantische Gastarbeiter-Erfolgsgeschichte" im Zentrum: Eine in Deutschland erfolgreich gewordene türkischstämmige Familie betrauert den Tod des Vaters, als die Nachricht von dem Anschlag hereinplatzt.

Von Rassismus betroffene Menschen sichtbar machen

"Es steht die große Frage im Raum: Was tun sie mit diesem reichen Erbe, das der Vater den Kindern hinterlassen hat?" Das stelle die Familie vor eine Zerreißprobe, so Cali: Die Mutter wolle in Deutschland, das sie als ihre Heimat begreife, bleiben. Die Kinder hingegen wollten in die Türkei zurück, mit dem Argument, dass sie trotz allen Erfolges in Deutschland nur die "Gastarbeiter und die Fremden" bleiben würden.
Mit seinem Stück wolle er Erzählungen von Menschen, die von Rassismus betroffen sind, sichtbar machen, erklärt Cali - "egal ob sie arm oder reich sind, ob sie die Chance hier in Deutschland genutzt haben oder nicht." Sie würden erkennen, "dass etwas Grundlegendes in diesem Zusammenspiel zwischen der Gesellschaft und ihren Minderheiten" nicht funktioniere:
"Das war meine große Sehnsucht beim Entwerfen dieses Stückes: Dass wir nicht in dem Sinne Objekte, Opfer einer Gesellschaft erkennen, sondern Subjekte, die etwas aus ihrem Leben gemacht haben, aber spüren, dass sie trotzdem an eine gläserne Decke stoßen, indem sie nicht als politische Kraft wahrgenommen werden."
(bth)

Das Trauerspiel "Das Erbe" von Nuran David Calis wird am Mittwoch, 23. November 2022, in den Münchner Kammerspielen uraufgeführt.
Regie und Choreografie: Pınar Karabulut
Mit Elmira Bahrami, Zeynep Bozbay, Sema Poyraz, Edith Saldanha, Mehmet Sözer u.a.

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