Kommentar zu 30 Jahre Rostock-Lichtenhagen

Noch immer Bürger zweiter Klasse

04:49 Minuten
Kriegsähnliche Zustände: Bei den Randalen in Lichtenhagen setzten Rechtsradikale auch Autos in Brand.
Kriegsähnliche Zustände: Bei den Ausschreitungen in Rostock-Lichtenhagen setzte der Mob auch Autos in Brand. © picture alliance / ZB / Jan Bauer
Von Minh Thu Tran · 22.08.2022
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Es ist einer der hässlichsten Momente in der deutschen Nachkriegsgeschichte. 1992 attackieren gewaltbereite Rechtsextreme das Sonnenblumenhaus in Rostock-Lichtenhagen, Anwohner johlen und applaudieren. Was hat sich seitdem geändert?
Viele der Überlebenden wollen heute nicht mehr in ein Mikrofon darüber sprechen, was damals in Lichtenhagen passiert ist. Zu lange her, man wolle nach vorne blicken, die Deutschen hätten einen gut behandelt. Die meisten der Vietnamesen von damals sind in Rostock und Umgebung geblieben.
Aber hört man in persönlichen Gesprächen länger zu, dann erzählen sie auch, dass sie ihre Kinder abends nicht alleine nach draußen lassen. Dass sie ihnen raten, ruhig und höflich zu sein, nicht aufzufallen, keine Probleme zu machen.
Dass sie sich damals, als ihr Wohnhaus im August 1992 brannte, im Stich gelassen gefühlt haben von den Behörden. Ihre Lehre aus Rostock?

Uns schützt niemand, am Ende schützen wir uns am besten selbst.

Die vergessenen Opfer der Gewalt

Eine Gruppe gibt es, mit der spricht kaum jemand, und sie kommt auch im medialen Diskurs kaum vor: die Roma. Viele von ihnen flohen in den 90er-Jahren vor der wachsenden Diskriminierung und Gewalt gegen sie aus Rumänien nach Deutschland.
Bei gerade mal bis zu 300 Betten waren viele der ankommenden Asylbewerber gezwungen, auf der Wiese vor dem Sonnenblumenhaus zu übernachten – darunter auch Familien mit kleinen Kindern. Ohne Zelte, ohne Essensversorgung, nicht mal Dixieklos gab es, aus Angst, die Verhältnisse zu legalisieren.
In den Medien wurde vor allem gegen sie rassistische Stimmung geschürt, von den Rechten, von den Anwohnern – und auch den Vietnamesen. Den Roma wurde unterstellt, Asylmissbrauch betreiben zu wollen, absichtlich in Rostock zu kampieren, dass es bei ihnen kulturelle Praxis sei zu klauen, dass sie Frauen und Mädchen belästigen würden. Rassistische Narrative, die Jahrtausende alt sind.

Vor der Eskalation evakuiert

Sie wurden vor der Eskalation der Gewalt evakuiert, aber danach? Interessierte sich niemand mehr für sie. Viele von ihnen wurden abgeschoben, ihre Anträge auf Asyl nicht anerkannt. Das Schweigen unserer Gesellschaft über die rassistische Gewalt gegen die Roma in Lichtenhagen ist ohrenbetäubend – ein Skandal, wenn wir daran denken, dass im Nationalsozialismus Hunderttausende Sinti und Roma ermordet wurden.
Die Lehre nach 30 Jahren Lichtenhagen? Für die Sinti und Roma, aber auch für die Vietnamesen, die hier in Deutschland rassistische Gewalt erfahren haben, ist sie: Im Zweifel bleiben wir in Deutschland Bürger zweiter Klasse.
Solange sich die deutsche Gesellschaft nicht auf allen Ebenen mit ihrem Rassismus auseinandersetzt, ist es für sie sicherer, unsichtbar und leise zu bleiben.
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