Gedenken in Hanau

Über die Köpfe der Angehörigen hinweg

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Volker Bouffier, Nancy Faeser und Claus Kaminsky stehen mit gesenkten Köpfen vor dem Grab. Im Hintergrund ist eine größere Trauergemeinde zu sehen.
Die Politik habe die Gedenkfeier für die Opfer des rassistischen Terroranschlags von Hanau vereinnahmt, kritisiert Emiş Gürbüz, Mutter des ermordeten Sedat Gürbüz. © picture alliance / dpa / Boris Roessler
Von Daniel Loick · 27.02.2022
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Das Gedenken an den Terroranschlag von Hanau letztes Wochenende ist in die Kritik geraten: Die Angehörigen der Opfer seien nicht genügend miteinbezogen worden. Der Philosoph Daniel Loick überlegt, was wir daraus lernen sollten.
Das offensive Hinweggehen über die Wünsche der trauernden Angehörigen bei der Gedenkveranstaltung zu dem Terroranschlag von Hanau ist zu Recht kritisiert worden. In ihm setzen sich Verhaltensweisen fort, die seitens staatlicher Institutionen schon in der Mordnacht von Hanau selbst zum Einsatz kamen. Viele Aspekte institutionellen Versagens, insbesondere der Polizei, hat die "Initiative 19. Februar" in einer Publikation schon anlässlich des ersten Jahrestags des Anschlags 2021 aufgelistet.

Politik ohne Würde

Dazu gehörte, dass die Angehörigen erst sehr spät oder gar nicht über das Schicksal ihrer Familienmitglieder informiert worden sind, während die Leichen der Ermordeten stundenlang an den Tatorten lagen, dass einige von ihnen selbst für Täter gehalten und mit Waffen bedroht wurden, dass einige der migrantischen Familien von der Polizei statt eines Betreuungsangebots erstmal eine sogenannte „Gefährderansprache“ erhalten haben, also die Aufforderung, keine Rache zu nehmen. Die deutsche Mehrheitsgesellschaft hat sich für all das wenig interessiert: Zwei Tage später hat in Mainz, Frankfurt und Köln der Karneval begonnen.
Der Philosoph Avishai Margalit prägte in seinem Buch „Politik der Würde“ den Begriff der „decent society“, der „anständigen Gesellschaft“. Er will damit die Tendenz der politischen Philosophie korrigieren, sich zu stark auf einen formalen Begriff von Gerechtigkeit zu beschränken: Statt uns an einem abstrakten Ideal perfekter Institutionen zu orientieren, sollten wir lieber versuchen, im Hier und Jetzt das Schlimmste zu verhindern. Darunter versteht er vor allem die Vermeidung von Demütigung: Eine anständige Gesellschaft ist eine, die ihre Mitglieder tagtäglich auf respektvolle Weise behandelt. Dies ist eine Frage des Rechts und der Politik – aber auch eine Frage der Kultur und der zwischenmenschlichen Umgangsweisen.  

Staatliche Respektlosigkeit

Margalit benennt mit der Kategorie des „Anstands“ eine wichtige Norm, die bei der Beurteilung des Handelns staatlicher Akteure häufig nicht mit bedacht wird. Wenn ein Mitarbeiter des Jobcenters eine Antragstellerin wie ein ungezogenes Kind behandelt, so hält er sich formal gesehen an die Regeln, erzeugt bei seinem Gegenüber aber dennoch ein Gefühl der Scham und Missachtung – das Gefühl, dass die eigenen Erfahrungen, Erzählungen und Bedürfnisse nicht zählen. Wenn die Opfer eines rechtsterroristischen Anschlags gegen den Willen der Angehörigen obduziert werden, dann mag das ebenso rechtskonform sein – aber es ist auch eine Form staatlicher Respektlosigkeit. Diese Erfahrungsdimension entgeht einem Blick, der nur auf die formal-rechtliche Korrektheit institutionellen Handelns gerichtet ist.
Porträt von Daniel Loick.
Der Sozialphilosoph Daniel Loick spricht sich für eine Kultur des Respekts aus.© Rainer Kurzeder
Die Kritik der Angehörigen der Opfer von Hanau zeigt, wie wichtig eine Kultur der Nicht-Demütigung ist. Sie zeigt aber auch, dass Margalits „Politik der Würde“ in mancher Hinsicht noch zu kurz greift. Erstens birgt die Kategorie der Würde auch eine Gefahr: die der Heuchelei. Denn wenn man darunter nur ein Höflichkeitsideal oder eine Verhaltenstugend verstünde, kann zwischenmenschlicher Respekt auch dazu benutzt werden, von institutionellen Missständen abzulenken und von echten Veränderungen zu entlasten – die von Margalit geforderte Kultur des Respekts wäre dann nichts anderes als Sonntagsreden und Symbolpolitik. 

Erinnern heißt verändern

Zweitens muss betont werden, dass eine Politik der Würde zu einer Politik der Gerechtigkeit nicht im Gegensatz steht. Denn dass die Angehörigen von Hanau demütigend behandelt wurden, hat einen Grund, der mit tiefgreifenden Macht- und Ausschlussmechanismen zusammenhängt, und dieser Grund heißt Rassismus. Auch dies können wir von der „Initiative 19. Februar“ lernen, die ihren Kampf um Respekt immer explizit mit der Forderung nach politischen Konsequenzen verbunden hat: Erinnern heißt verändern.
Wer es mit dem Respekt gegenüber den Angehörigen und also einer Politik der Würde ernst meint, darf sie nicht nur bei staatstragenden Gedenkveranstaltungen betreiben. Sie muss Alltag werden.

Daniel Loick ist Associate Professor für politische Philosophie und Sozialphilosophie an der Universität Amsterdam. Von ihm erschien 2017 das Buch "Juridismus. Konturen einer kritischen Theorie des Rechts" im Reclam Verlag.

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