Ein Trip durch den Dschungel, der das Erzählen selbst in Frage stellt, eine Reflexion über das Verhältnis von Mensch und Maschine, zwei Männer – zurückgeworfen nur auf sich selbst -, die auf einem Floß irgendwo auf dem Meer herumtreiben, die Folgen der philippinischen Kolonialgeschichte oder die Frage danach, wie flexibel unser Gewissen ist.
Die Romane des Jahres 2025 waren aufregend, mitunter herausfordernd, oft herausragend. Wir haben für Sie zehn Bücher zusammengestellt, die sie keinesfalls verpassen sollten. Die gute Nachricht: Lesen kann man sie auch noch im nächsten Jahr. Denn wahre Literatur ist beständig.
Dieses schmale Buch ist eine Wucht, in Frankreich wurde es zur Sensation. Es enthält den stilistisch so souveränen wie provokativen Bericht einer sexuellen weiblichen Selbstbefreiung aus der immer noch patriarchal geprägten französischen Oberschicht. Obgleich Autofiktion, nicht Autobiographie, wirkt jedes Wort darin authentisch.
Die renommierte Juristin Constance Debré stammt aus der Oberschicht. Ihr Großvater war französischer Premierminister. Dem verlogenen Snobismus ihrer Klasse setzt sie eine bewusst schamfreie Sprache entgegen, mit der sie in der Nachfolge von Jean-Jacques Rousseau ihr Inneres kartografiert: das Begehren, den Hass, die Hoffnung.
In „Play Boy“, dem Auftakt zu einer Trilogie, verarbeitet Debré dabei vordergründig die Entdeckung der eigenen Homosexualität, den Sorgerechtsstreit nach dem Ende ihrer heterosexuellen Ehe, die Drogensucht ihrer Eltern und den Bruch mit dem Vater nach dem frühen Tod der Mutter. Aber zugleich ist all das auch eine schonungslos ehrliche, kluge Abrechnung mit dem Pariser Großbürgertum, das in Debrés neoaufklärerischer Perspektive als gesellschaftlich entwurzelte, politisch verlorene Schicht erkennbar wird.
Constance Debré: „Play Boy“
Aus dem Französischen von Max Henninger
Verlag Matthes & Seitz Berlin 2025,
160 Seiten, 20 Euro
Eine gigantische Vernichtungsmaschinerie steht im Zentrum dieses fesselnd erzählten und geschickt gebauten Romans. Bis zu zwei Millionen Hühner werden jedes Jahr in der fiktiven Firma Möllring im Emsland geschlachtet. Alle Figuren haben damit auf die ein oder andere Weise zu tun:
Die alleinerziehende Mutter und Arbeiterin Sonia ertastet am Sortierband verholzte Brustfilets. Als Ingenieurin will Anna genau diesen Prozess effizienter machen. Und Abteilungsleiter Peter blendet die Ausbeutung, die vor seinen Augen geschieht, aus. Er flüchtet stattdessen in die Sehnsucht nach seiner polnischen Großmutter, die als Zwangsarbeiterin ins Emsland verschleppt wurde, und sucht auf deutsch-polnischen Dating-Websites nach Verständnis.
Episodisch erzählt die deutsch-iranische Schriftstellerin Nava Ebrahimi von einem Montag im Leben dieser Figuren. Sie verschränkt deren Wege, streut Cliffhanger, Zufälle und Komik zwischen die Erzählstränge, bis ein vielschichtiges Gesellschaftspanorama entsteht – und ein kluger Kommentar zu Gegenwart. Denn am Ende ist es ausgerechnet der geflüchtete afghanische Dichter Nassim, der vom Geflügelunternehmer Möllring medienwirksam einen Scheck überreicht bekommt, sich aber allen Erwartungen an seine Figurenrolle entzieht.
Nava Ebrahimi: "Und Federn überall"
Luchterhand Literaturverlag 2025
352 Seiten, 24 Euro
Was für ein wilder Roman! Und dabei zugleich ein - obwohl er so schmal ist, gerade mal 160 Seiten umfasst er - auch inkommensurabler Roman, umso erfreulicher, dass dieses vierte Buch von Dorothee Elmiger, die 1985 in der Schweiz geboren wurde und derzeit in New York lebt, in diesem Jahr mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet wurde. Denn man darf Leserinnen und Lesern unbedingt zutrauen, dass sie sich in diesen literarischen Dschungel begeben. Sie werden bereichert wieder daraus heraustreten.
Grob zusammengefasst handelt „Die Holländerinnen“ von der Recherchereise einer Theatergruppe in den Dschungel von Panama, wo im Jahr 2014 zwei holländische Touristinnen unter ungeklärten Umständen zu Tode gekommen sind – ein historischer Fall. Korrekter noch: Der Roman handelt von einer Poetikvorlesung, in der eine Schriftstellerin von dieser Recherchereise, auf der sie die Theatergruppe begleitet hat, erzählt.
Diese Reise nun und das Erzählen von dieser Reise fügt sich bei Dorothee Elmiger nicht zu einer linearen Suchbewegung, sondern wird zu einer fragmentarischen, mit Anspielungen aus der Literatur- und Filmgeschichte gesättigten Reflexion über die Möglichkeiten und Bedingungen des Erzählens selbst. Nicht zuletzt über die Frage, die ja die literaturkritische Diskussion immer einmal wieder bestimmt: darf man nur von dem erzählen, was man selbst erlebt hat?
Dorothee Elmiger: „Die Holländerinnen“
Hanser Verlag
160 Seiten, 23 Euro
Ein spannender Roman, dessen Handlung ins Herz der Zeit trifft. Eine Familiengeschichte mit politischen Dimensionen im Israel der Gegenwart: Ayelet Gundar-Goshen entwickelt aus einer Alltagssituation einen tragischen Konflikt, in dem alle Figuren Seiten ihrer Persönlichkeit offenbaren, von denen sie selbst bis dahin nichts geahnt haben.
Bei einem Arbeitsunfall kommt ein junger Mann zu Tode. Verdächtigt wird sofort ein palästinensischer Handwerker. Eine jüdische Anwältin weiß, dass er unschuldig ist, schweigt jedoch, getrieben von ihren eigenen Schuldgefühlen.
Die Autorin verdichtet die Situation von Seite zu Seite. Lässig, aber mit der Mechanik eines automatischen Uhrwerks. Einmal in Gang gesetzt, löst ein Ereignis das nächste aus, mit vorerst unvorhersehbaren Folgen für alle Beteiligten. Es ist eines der Markenzeichen Ayelet Gundar-Goshens, dass in ihren Romanen eine Entscheidung, getroffen in Sekundenschnelle, schicksalhaft wird. Und ihre Figuren - Mütter, Väter, Kinder, die einen normalen Alltag leben – zu Figuren eines Dramas werden.
Wie leben wir mit Schuld, wie flexibel ist unser Gewissen, welche Werte bestimmen unser Handeln – diese Fragen stellt Ayelet Gundar-Goshen auf anschauliche und spannende Weise, mit psychologischem Feingefühl und überraschenden Wendungen.
Ayelet Gundar-Goshen: „Ungebetene Gäste“
Aus dem Hebräischen von Ruth Achlama
Verlag Kein & Aber 2025
314 Seiten, 25 Euro
Von der fiktiven philippinischen Insel Banwa kommen Racel und Lia, die inzwischen beide in Singapur leben. Sie sind zusammen in der Villa reicher Zuckerplantagenbesitzer aufgewachsen. Lia als Tochter des Hauses. Racel als Tochter von Lias Kinderfrau. Trotz einer guten Ausbildung kümmert sich Racel inzwischen in Singapur um einen fremden Haushalt, weit weg von der eigenen Familie und dem eigenen Kind. Wie schon ihre Mutter. Sie steht damit für das Schicksal der philippinischen „Overseaworker“.
Als sie erfährt, dass ihre Mutter nach einem Taifun verschwunden ist, kehrt sie in die Villa auf Banwa zurück, zeitgleich mit Lia, die nach einem Eheskandal auf der Flucht vor der Klatschpresse ist. Langsam kommen sich die beiden Frauen über die Klassengrenzen hinweg näher, zumal es spukt in dem alten Haus: Sie begegnen „Aswangs“, Gestalten aus der philippinischen Mythologie. Der Roman zeichnet ein komplexes Bild der philippinischen Gesellschaft, die auch 80 Jahre nach Ende der Kolonialzeit noch mit deren Folgen kämpft.
Caroline Hau: „Stille im August“
Aus dem Englischen von Suanne Urban
Wunderhorn Verlag
350 Seiten, 28 Euro
Bewusstsein als Verhängnis: In Christian Krachts „Air“ amalgieren zwei Welten, ein doppelter Held, Fantasy-, Mystery- und Tech-Novel. So entsteht einer der intelligentesten Romane unserer deutschsprachigen Gegenwart. In der sogenannten „Wirklichkeit“ soll Interior Designer Paul einen skandinavischen Cloud-Speicher in „perfektem Weiß“ gestalten. Doch er wird auf mysteriöse Weise verschwinden („Dark“ lässt grüßen) – und wieder auftauchen in einer keltischen Anderswelt.
Die Lancelot-Legende, Wittgensteins „Tractatus logico-philosophicus“, Jean Baudrillards ‚Simulakrum’-Theorie und schlimmste KI-Alpträume grundieren diese Geschichte. „Air“ ist das Buch unserer Stunde, in der sich Menschen nach Klarheit, Tabula rasa, oder auch nach Rückkehr in eine Pseudo-Unschuld, die wir unrettbar verloren haben, sehnen.
Christian Kracht: „Air“
Verlag Kiepenheuer & Witsch 2025
224 Seiten, 25 Euro
Eben noch ein recht zufriedener 91-jähriger Rentner mit Hund, nun der geheime König von Ungarn: Onkel Józsi bekommt Besuch von einigen Männern, die ihn verehren als letzten Spross des bis 1301 das schöne Ungarn beherrschenden Árpádengeschlechts. Onkel Józsi lebt auf, erzählt den regelmäßig wiederkehrenden Besuchern zum sauren Wein Anekdoten aus seinem geheimköniglichen Leben und wird ein Zausel im Glück. László Krasznahorkai, bekannt als strikter Gegner des ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán, widmet sich in seinem neuen Roman „Zsömle ist weg“ Monarchisten, Rechtsextremen und Großungarn.
In soghaft langen Sätzen mit vielen Kommata und sehr wenigen Punkten palavern sich die „Retter des Vaterlands“ und ihre Unterstützer im Parlament um Kopf und Kragen. Am Ende ist Onkel Józsi wieder der Greis mit Größenwahn vom Anfang. Was bleibt, ist ein Geschwafel, das kunst- und lustvoll alles miteinander verbindet: hoch und niedrig, Lebensfreude und Depression, Zuneigung und Brutalität. Und König und Onkel.
László Krasznahorkai: „Zsömle ist weg“
Aus dem Ungarischen von Heike Flemming
S. Fischer Verlag 2025
304 Seiten, 25 Euro
(Erscheint am 10.12.2025, wir haben es ab Freitag als Buch der Woche)
Dieser außergewöhnliche Roman geht materialgesättigt, in weit ausgreifenden, musikalischen Sätzen dem Verhältnis von Mensch und Maschine nach und lotet eine ganz grundsätzliche Frage aus: Ist technischer Fortschritt ein Segen oder schlägt dieser Fortschritt notgedrungen in etwas Menschenfeindliches um? Eine Frage, die unter den Bedingungen eines forcierten Kapitalismus noch einmal an Relevanz gewinnt.
Jonas Lüscher erkundet dieses Mensch-Maschine-Verhältnis über die Jahrhunderte hinweg: von Weberaufständen im England des frühen 19. Jahrhunderts, über den ersten Giftgasangriff der deutschen Armee in Flandern bis hin in ein futuristisches Ägypten, in dem Androiden im Cabaret das Lachen lernen wollen.
Und „Verzauberte Vorbestimmung“ ist ein Roman, der darüber hinaus auf eindrückliche Weise von einer wesentlichen Zäsur unserer Zeit handelt: von der Corona-Pandemie. Jonas Lüscher selbst gehörte zu den Patienten, die in einer frühen Phase der Pandemie schwer erkrankten. Mehrere Wochen lag er im künstlichen Koma, wurde nur von Maschinen am Leben erhalten. Wie Jonas Lüscher diese Erfahrung mit der grundsätzlichen Reflexion über das Wesen des Fortschritts zu einem Roman verwebt, hat die Jury des vom Deutschlandfunk und der Stadt Braunschweig vergebenen Wilhelm Raabe-Literaturpreises vollends für „Verzauberte Vorbestimmung“ eingenommen, so dass er diesen renommierten Preis im Jahr 2025 für seinen Roman erhalten hat.
Jonas Lüscher: „Verzauberte Vorbestimmung“
Hanser Verlag 2025
352 Seiten, 26 Euro
Der alte Fischer Bolivar und der Jugendliche Hector geraten vor der Küste Mexikos in einen Sturm, der ihr Boot in die Weiten des Pazifiks treibt. Der Kraft der Natur ausgeliefert, bleibt ihnen nur das nackte Leben. Im Angesicht des Todes kommen sich da zwei Männern näher, die sich bis dahin kaum kannten. Wie ein Kammerspiel beschreibt Lynch ihre Situation, lässt sie über ihr Leben philosophieren. „Zeit ist jetzt nicht Zeit. Sie vergeht nicht, sondern bleibt“. Und sie fördern ihre „Sünden“ zutage wie vor dem Jüngsten Gericht. Die Sonne brennt auf ihre salzverkrusteten Körper.
Sie freuen sich über jeden Tropfen Regen und gefangenen Fisch. Booker-Preis-Träger Paul Lynch soll von einer wahren Begebenheit zu diesem Roman inspiriert worden sein. Zwei Fischer aus Mexiko sind mehr als 400 Tage auf dem Meer getrieben. Einer erreichte schließlich eine Insel. Im Roman auch? Oder ist es nur ein Fiebertraum? Dieses Buch verhandelt auf zutiefst existentielle Weise das Menschsein.
Paul Lynch: „Jenseits der See“
Aus dem Englischen von Eike Schönfeld
Klett-Cotta Verlag 2025
192 Seiten, 22 Euro
Ein junger Mann namens Hai lügt seiner abgekämpften Mutter etwas vor, braucht täglich mehr Tabletten und ist kurz davor, sich kopfüber in einen eiskalten Fluss zu stürzen. Doch da packt ihn die uralte Grazina am Schlafittchen, die nichts so schnell umhaut - schließlich hat sie das Gemetzel des Zweiten Weltkriegs überlebt. Die beiden bilden eine anrührende Schicksalsgemeinschaft und helfen sich durch finstere Tage. Mal episch ausschweifend, mal rasant entfaltet Ocean Vuong eine Einwanderergeschichte.
Er kontrastiert lyrisch-einfühlsame Schilderungen mit sarkastischen, entlarvt den Zynismus des Systems und vermittelt die Folgen der Opioid-Krise. Vor allem aber erzählt er davon, wie tiefe Versehrungen überraschende Kräfte entfalten können. Und er präsentiert uns ein anderes Amerika: Unter den Outcasts herrscht Solidarität, zwischen Stadtbrachen, Schnellrestaurants, Pornokabinen und Tankstellen blitzt plötzlich Schönheit auf. „Der Kaiser der Freude“ ist ein trotziger Bildungsroman.
Ocean Vuong, „Der Kaiser der Freude“
Aus dem Englischen von Ann-Kristin Mittag und Nikolaus Stingl
Hanser Verlag 2025
527 Seiten, 27 Euro