Unter den Neuerscheinungen ragen in diesem Jahr zehn Titel heraus, die verstörend und erschütternd, tiefschwarz und unterhaltsam sind. Die 18-köpfige Jury hat aus den monatlichen Krimibestenlisten von Deutschlandfunk Kultur ihre Auswahl getroffen.
Was auffällt: Die Krimis sind geprägt von komplexen, oft weiblichen Hauptfiguren, die sich in extremen moralischen und gesellschaftlichen Konflikten behaupten. Doch es gibt auch eine Wiederbegegnung mit der berühmtesten Romanfigur John le Carrés.
Erneut ist der israelische Autor Lavie Tidhar mit einem bemerkenswerten historischen Kriminalroman vertreten. Und auch die US-Autorin Megan Abbott ist wieder dabei.
Ruth ist eine glühende Zionistin. Die ungarische Jüdin flieht nach Palästina, um dort nach Ende des Zweiten Weltkriegs als überzeugte Kibbuznik mit allen Mitteln für den neuen Staat Israel zu kämpfen und schreckt dafür auch vor Verbrechen nicht zurück.
Das ist der Ausgangspunkt von "Adama", in dem Lavie Tidhar mehrere Jahrzehnte israelischer Geschichte als Familiendrama und Thriller erzählt und nach den Wurzeln von Krieg und Gewalt in seinem Heimatland fragt.
Es geht um Waffen für jüdische Milizen, Drogenschmuggel und den Rachefeldzug einer Holocaust-Überlebenden, um die Folgen der Kriege, die Israel und seine Nachbarstaaten führen, und um das Aufwachsen von Ruths Kindern und Enkeln im Kibbuz: Idealismus und Härte, Staub, Sand und Stein.
"Adama" heißt "Erde", abgeleitet von dem hebräischen Wort für Blut. "Kein Land ohne Blut", schreibt Lavie Tidhar an einer Stelle: ein Satz, der vor dem Hintergrund des Gaza-Konflikts noch einmal eine andere Intensität bekommt. "Adama" ist ein brillant geschriebener historischer Kriminalroman und zugleich verstörend aktuell. Der wichtigste Thriller des Jahres.
Lavie Tidhar: "Adama"
Übersetzung: Conny Lösch
Suhrkamp 2025, 425 Seiten 22 Euro
Die Uckermark im tiefsten Winter. "Sei Jäger, keine Beute": Mit diesem Credo ist Asa Kolbert aufgewachsen. Nun lauert die 14-Jährige unter einem Eisloch im Wasser eines zugefrorenen Sees. Sie versteckt sich vor den Männern, die seit Tagen hinter ihr und den anderen Teenagern her sind.
Doch die Männer werden unvorsichtig und Asa greift sie an. Zuerst will sie nur die Prüfung bestehen, der sich seit Jahrzehnten alle Jugendlichen ihrer Gemeinschaft unterziehen müssen. Aber dann erkennt Asa die wahre Bedeutung hinter dem grausamen Ritual und beginnt einen furiosen Rachefeldzug: Hunger Games in der ostdeutschen Provinz.
Zoran Drvenkar meldet sich mit einem perfekt konstruierten Thriller zurück. In „Asa“ erzählt er aus unterschiedlichen Perspektiven deutsche Geschichte von 1900 bis in die Gegenwart als Rache- und Familienroman und liefert zugleich eine erschreckend zeitgemäße Studie über die Genealogie der Gewalt. Episch, brillant, erschütternd: „Asa‟ ist der beste deutschsprachige Kriminalroman 2025.
Zoran Drvenkar: "Asa"
Suhrkamp 2025, 697 Seiten, 23 Euro
August 1975. Im Ferienlager Camp Emerson im Staat New York bricht Panik aus. Die 13-jährige Barbara van Laar wird vermisst. Alte Wunden brechen wieder auf: Vor 14 Jahren verschwand in den Wäldern rund um das Camp ihr Bruder Bear. Er wurde niemals gefunden. Und es gibt nicht wenige Menschen, die seitdem glauben, dass die reiche Familie van Laar etwas zu verbergen hat.
Liz Moore wählt die Blickwinkel mit Bedacht, wechselt gekonnt die Zeitebenen und dosiert klug die Informationen für ihre Leser und Leserinnen. Dadurch baut die US-Amerikanerin eine atmosphärisch dichte, in sich stimmige Romanwelt auf, in der man sich gern wie in einer richtig guten Fernsehserie einrichtet.
Das liegt auch an der Szenerie: In den Adirondack Mountains der 1960er- und 1970er-Jahre finden sich bereits der fahrlässige Umgang mit der Natur und die gesellschaftlichen Verwerfungen der Gegenwart.
Dazu steckt "Der Gott des Waldes" voller feinfühliger Beobachtungen über die Schwierigkeiten und Verletzlichkeiten des Heranwachsens, die Grenzen zwischen sozialen Schichten, das Leben als Mädchen und Frau in diesen Jahren.
Ein scharfsinniger, vielschichtig komponierter und sehr unterhaltsamer Spannungsroman über Machtmissbrauch und vergiftete gesellschaftliche Dynamiken in den USA.
Liz Moore: "Der Gott des Waldes"
Übersetzung: Cornelius Hartz
C.H. Beck 2025, 590 Seiten, 26 Euro
Ein Gefängnis in Arizona. Dios weiß, dass Florida nicht das reiche, weiße Partygirl ist, das sich mit den falschen Leuten eingelassen hat. Und sie will, dass Florida sich endlich eingesteht, wer sie wirklich ist, koste es, was es wolle.
Als die Frauen aufgrund der Covid-Pandemie vorzeitig auf Bewährung entlassen werden, heftet sich Dios an Floridas Fersen und die beiden ziehen eine blutige Spur auf ihrem Weg ins grell-heiße Los Angeles hinter sich her.
Gewalt ist das große Thema dieses fulminanten Kriminalromans: Ivy Pochoda spitzt sie bis ins Groteske zu und rahmt das Duell zwischen Dios und Florida mit einer Erzählstimme aus einem griechischen Chor. Pop und Pulp treffen auf Hochkultur, um zu zeigen, dass Frauen Opfer von Gewalt sind und manchmal eben auch selbst Gewalt ausüben.
Knallhart, kompromisslos und konsequent: Ivy Pochoda gehört zu den aufregendsten Krimi-Entdeckungen aus den USA und „Sing mir vom Tod“ beweist das abermals. Tiefschwarz, flirrend, und faszinierend: „Sing mir vom Tod“ ist ein Krimijuwel.
Ivy Pochoda: "Sing mir vom Tod"
Übersetzung: Stefan Lux
Suhrkamp 2025, 332 Seiten, 17 Euro
Jacy ist frisch verheiratet und schwanger. Mit ihrem Mann Jed besucht sie ihren Schwiegervater, der inmitten endloser Wälder in Michigan allein mit seiner Haushälterin lebt. Anfangs fühlt sich Jacy sehr wohl und umsorgt. Doch dann kommt es zu Komplikationen bei der Schwangerschaft, und plötzlich zeigen die Männer, die sich so aufopfernd um sie kümmern, eine andere, bedrohliche Seite.
Der Körper einer schwangeren Frau ist seit jeher Projektionsfläche konservativer Kontrollfantasien. Kaum etwas eignet sich besser zur Sezierung tradierter Geschlechterrollen und fest eingeschriebener patriarchaler Herrschaftsmuster. Megan Abbott verbindet das in ihrem Gothic-Noir-Roman geschickt mit bekannten Horrormotiven, und setzt ohne explizite Gewaltdarstellung eine Spirale stetig ansteigenden Grauens in Gang, der man nicht entkommen kann.
Charmante Männer sind gefährlich: Megan Abbott zeigt eindrucksvoll, wie sich hinter vermeintlicher Fürsorge Macht und der Wunsch nach bedingungsloser Unterwerfung verbergen. "Hüte Dich vor der Frau" ist ein herausragender Kriminalroman über toxische Männlichkeit.
Megan Abbott: "Hüte dich vor der Frau"
Übersetzung: Peter Hammans
Pulp Master 2025, 373 Seiten, 16 Euro
Nellie Coker ist die Königin der Unterwelt. Nachdem sie sechs Monate im Gefängnis verbracht hat, muss sie ihr Imperium gegen brutale Konkurrenten, die Mafia und korrupte Polizisten verteidigen. Und das alles, während in der Stadt an der Themse Tänzerinnen und Prostituierte brutal ermordet werden.
Kate Atkinson lässt diese Nellie Coker – eine historisch verbürgte Figur! – in "Nacht über Soho" auf die smarte Provinz-Bibliothekarin Gwendolen treffen, die sich furchtlos in das Londoner Nachtleben stürzt: Sie soll als verdeckte Ermittlerin die Spur eines Serienmörders aufnehmen.
Rund um diese beiden ungewöhnlichen Frauen entsteht ein messerscharf recherchiertes und gleichzeitig desillusionierendes Porträt der "Roaring Twenties": Unter einer flirrenden Oberfläche aus Tanz, Rausch und Maskeraden liegen Armut, Intrigen, Verrat und Gewalt – und die Verwüstungen, die der Erste Weltkrieg in der britischen Gesellschaft hinterlassen hat. Ein brillant erzählter historischer Kriminalroman.
Kate Atkinson: "Nacht über Soho"
Übersetzung: Anette Grube
DuMont 2025, 527 Seiten, 25 Euro
Großbritannien im Herbst 2022. Der Journalist und investigative Blogger Christopher Swann will auf einer Konferenz in einem herrschaftlichen Landhaus Beweise dafür finden, dass einflussreiche und extrem konservative Kreise um die soeben ernannte Premierministerin Liz Truss das britische Gesundheitswesen hinterrücks privatisieren wollen. Doch ehe Swann die Ergebnisse seiner Recherchen veröffentlichen kann, stirbt er.
Der Tod des Bloggers steht am Anfang dieses bissigen Kriminalromans, der einige im Moment sehr populäre Erzählmuster parodiert und gleichzeitig einen scharfen Blick auf die Gegenwart wirft. Coe verbindet humorvolle und pointierte Alltagsbeobachtungen mit einer Analyse des britischen und US-amerikanischen Konservatismus und macht daraus mit sehr leichter Hand ein literarisches Spiel.
Landhauskrimi mal ganz anders: Jonathan Coe zeigt, dass Cosy Crime nicht immer harmlos sein muss. "Der Beweis meiner Unschuld" ist der cleverste Krimi des Jahres 2025.
Jonathan Coe: "Der Beweis meiner Unschuld"
Übersetzung: Cathrine Hornung
Folio 2025, 409 Seiten, 28 Euro
Detective Sergeant Tom Kettle ist im Ruhestand und genießt in einem idyllischen Hafenstädtchen südlich von Dublin den Blick aufs Meer. Doch dann bitten ihn zwei frühere Kollegen um Unterstützung bei der Wiederaufnahme eines alten Falls. Es geht um den Mord an einem Priester und um die Vertuschung systematischen Kindesmissbrauchs durch Kirche und Staat.
Der irische Schriftsteller Sebastian Barry erzählt in "Jenseits aller Zeit" von einem pensionierten Polizisten, der von der eigenen Vergangenheit eingeholt wird und sich in einem erzählerisch raffiniert gesponnenen Netz aus traumatischen Erlebnissen und verdrängten Erinnerungen verfängt. Erst langsam beginnt man zu ahnen, was Tom Kettle mit diesem Fall verbindet.
Fein gezeichnete Naturbeschreibungen treffen in diesem Ausnahmekrimi auf sexualisierte Gewalt, drastische Bilder vom Bombenterror der IRA begleiten eine schmerzhafte Familiengeschichte: Der Ex-Polizist Tom Kettle ist nicht auf der Suche nach einem Mörder, er ist auf der Suche nach Erlösung.
"Jenseits aller Zeit" ist eine Meditation über die unheimliche Macht, die die Vergangenheit über uns hat. Ein dunkles literarisches Meisterwerk.
Sebastian Barry: "Jenseits aller Zeit"
Übersetzung: Hans-Christian Oeser
Steidl 2025, 278 Seiten, 28 Euro
George Bennett ist Filmemacher – und Mörder. Er tötet Menschen vor laufender Kamera, während er Anfang der Neunzigerjahre in Paraguay, Bolivien, Chile und Peru auf den Spuren seines Vaters unterwegs ist, einem sadistischen CIA-Agenten, der als Folterknecht für südamerikanische Diktatoren gearbeitet hat. Und das ist erst der Anfang dieses monströsen Romans.
"Unten leben" von Gustavo Faverón Patriau ist eine verstörende Exkursion in die Schreckensgewölbe der Zeitgeschichte. Zwischen den Schlachtfeldern des Zweiten Weltkriegs in Südosteuropa und einem biederen Einfamilienhaus in Maine entsteht ein Tableau aus Snuff-Videos, flackernden Bildern sowjetischer Avantgardefilme, geisterhaften Begegnungen mit lateinamerikanischen Lyrikern und Nazi-Verbrechern wie Klaus Barbie.
Patriau – der ein großer Bewunderer Roberto Bolaños ist – baut aus verschachtelten Erzählebenen und historisch verbürgten Verbrechen ein ganzes Labyrinth aus Grausamkeit und Wahnsinn. Ein postmoderner Albtraum und ein überwältigender Versuch, die Katastrophengeschichte des 20. Jahrhunderts literarisch zu analysieren. Nur für Fortgeschrittene: "Unten leben" ist die Herausforderung auf der Krimibestenliste 2025.
Gustavo Faverón Patriau: "Unten leben"
Übersetzung: Manfred Gmeiner
Droschl 2025, 600 Seiten, 34 Euro
Es ist auch ein ganz realer Familienroman: Nick Harkaway alias Nicholas Cornwell ist der Sohn von John le Carré und selbst Schriftsteller. Er schreibt Science Fiction und hat sich auch schon mal an einem Spionageroman versucht, aber jetzt tritt er fünf Jahre nach dem Tod seines Vaters selbstbewusst ein großes Erbe an. In "Smiley" lässt er den legendären britischen Spion George Smiley wieder aufstehen, John le Carrés berühmteste Romanfigur.
Le-Carré-Fans werden sich hier sehr zu Hause fühlen: Während der britische Geheimdienst im Jahr 1963 in London einen verschwundenen ungarischen Agenten aufzuspüren versucht, zeichnet sich im Hintergrund die Figur von "Karla" ab, dem KGB-Offizier und künftigen Erzfeind von Smiley.
In Harkaways Thriller kreuzen sich die Wege der beiden zum ersten Mal: "Smiley" erzählt die Vorgeschichte zu le Carrés großem Wurf "Dame, König, As, Spion".
Nick Harkaway baut mit großer Eleganz und sanfter Ironie die doppelbödigen Szenen nach, die die Romane seines Vaters zu literarischen Meisterwerken gemacht haben. Trotzdem ist "Smiley" mehr als ein nostalgisch gestimmtes Prequel. Auch weil dieser Krimi jede Menge Blockbuster-Action enthält, die man dem melancholischen George Smiley eigentlich nicht zugetraut hätte. Ein großes Comeback.
Nick Harkaway: "Smiley"
Übersetzung: Peter Torberg
Ullstein 2025, 367 Seiten 24,99 Euro