Kinder wollen ernst genommen werden mit ihren Sorgen und Wünschen, mit ihren Gefühlen und Träumen. Sie wollen die Welt um sich herum besser verstehen und gleichzeitig in fantastische Welten eintauchen. Und wie gelänge das besser als mit Büchern?
Ein Glück, dass im Jahr 2025 originelle, feinfühlige, poetische und lustige Erzählungen für Kinder und Jugendliche erschienen sind. Außerdem kamen spannende und wunderschön illustrierte Sachbücher auf den Markt, die nicht nur junge Leserinnen und Leser in ihren Bann ziehen.
Die Literaturredaktion von Deutschlandfunk und Deutschlandfunk Kultur präsentiert die besten Kinder- und Jugendbücher des Jahres. Manche sind zum Vorlesen, einige zum Selberlesen und ein paar zum Immer-Wieder-Lesen.
Detailreich, farbgewaltig und beeindruckend: Das hier ist ein Super-Sachbuch über ein geselliges Tier, das die meisten Menschen heute nur noch aus dem Kühlregal im Supermarkt kennen. Dabei gibt es dreimal mehr Hühner als Menschen auf der Welt. Und Hühner sind schlau. Ihre Küken etwa können bis fünf zählen. Auch sehen Hühner mit ihren geperlten, gepfefferten, gesäumten, getupften oder gesprenkelten Federn nie gleich aus.
Diese Tiere sind so beeindruckend, dass sie in vielen Religionen verehrt werden: Schon Julius Cäsar beschrieb Hühner als göttlich, ohne zu wissen, dass sie von den Dinosauriern abstammen. Im Islam sind sie die heiligsten aller Tiere und in Mexikos Kirchen kann man Hühnern seine Probleme anvertrauen.
Und die Geschichte des zahmen Huhns nahm vor 8.000 Jahren in Thailand ihren Anfang. Das sind nur einige der zahlreichen wichtigen wie witzigen Informationen zum Gallus gallus, die Evelien De Vlieger zusammengetragen hat.
Dieses großformatige Kindersachbuch ist auch ein Fest der Sinne: Die aufwendigen Bilder von Jan Hamstra sind eine Wucht. Jedem Bild liegen Linolschnitte zugrunde, die am Ende digital übereinandergelegt und koloriert wurden. Aufwendig, aber lohnend: „Das große Buch der Hühner“ ist große Kunst. (kim)
Evelien De Vlieger/Jan Hamstra (Ill.): "Das große Buch der Hühner"
Aus dem Niederländischen von Rolf Erdorf
Gerstenberg Verlag 2025, 80 Seiten, 29 Euro
Ab 8 Jahren
Schon der Titel „Zweiklang“ verweist auf die beiden zentralen Motive dieses feinfühligen Jugendromans: die innere Zerrissenheit vom jugendlichen Torleif und seine Liebe zur norwegischen Volksmusik. Torleif spielt die traditionelle Hardangerfidel und lebt in einem Musikinternat in der Stadt. Dort hat er Freunde, die ihn und seine Homosexualität anerkennen. Doch nach einem Schlaganfall seines Großvaters kehrt er zurück in sein Heimatdorf, wo er wieder mit Anfeindungen konfrontiert wird.
Die Volksmusik bietet eine eigenwillige Kulisse, vor der Torleif mit sich selbst ringt. Sprachlich leicht und emotional durchaus fordernd, gewährt die mehrfach ausgezeichnete Autorin Elin Hansson nicht nur Einblicke in den inneren Tumult eines Teenagers in Norwegen, sondern auch in die Gesetzmäßigkeiten des Lebens in einem entlegenen Bergdorf – mit seiner traditionellen Musikkultur und wunderbarer Handwerkskunst. (sk)
Elin Hansson: „Zweiklang“
Aus dem Norwegischen von Meike Blatzheim und Sarah Onkels
Atrium 2025, 320 Seiten, 19 Euro
ab 14 Jahren
Der 17-jährige Philipp lebt mit seinem Vater und dessen junger Freundin in einer schicken Villa. Geld ist kein Problem. Das Leben scheint es gut mit Philipp zu meinen. Doch die Stimmung ist angespannt: Vater und Sohn kommen nicht wirklich zueinander. Die Stiefmutter dringt nicht ein in dieses Familiengeflecht.
Denn Phillips Mutter schwebt über allen. Diese wilde, ungestüme Frau ist abwesend und doch da: Astrid ist psychisch krank. Immer wieder versetzt sie alle in Angst und Schrecken. Entführt Philipp, stürmt unerwartet in sein Klassenzimmer, schenkt ihm einen Hund, um Philipp das Tier gleich wieder wegzunehmen.
Horror! Vor allem, weil keiner über die Krankheit spricht. Sie bleibt „ein wohlgehütetes Geheimnis“. Was genau das anrichtet, macht Annika Büsing schmerzhaft spürbar. Sie schaut hinter die Fassade, beobachtet klug und feinfühlig. Jeder Satz in ihrem wunderbaren Buch brennt sich ein. Setzt sich fest und lässt das stimmige Bild eines verunsicherten Teenagers entstehen, der durch seine kranke Mutter gezwungen wird, klarer zu sehen als andere in seinem Alter. Philipp – „heavy hearted as fuck“ – würde gerne auch mal ausbrechen aus den Konventionen, und doch weiß er: „Kann ja nicht jeder durchdrehen in dieser verfickten Familie!“ Ein feinsinniges, großartiges Buch. (kim)
Annika Büsing: "Wir kommen zurecht"
Steidl 2025, 288 Seiten, 24 Euro
Ab 14 Jahren
Es beginnt wie im Märchen: In einem brüchigen Haus am Waldrand leben zwei ungleiche Schwestern. Eine fröhlich, die andere mürrisch. Als die Große friert, will die Kleine ihr helfen und strickt aus magischem Spinnengarn einen Pullover. Doch der Pulli reicht nicht aus, im Gegenteil. Schamlos nutzt die Große die schwesterliche Hilfsbereitschaft und die helfenden Spinnen für den eigenen Profit aus.
Bis die Geschichte den Verlauf nimmt, den ein Märchen in so einer Situation nehmen muss: Die selbstsüchtige Schwester wird kompromisslos gerächt. Und zwar von der Spinnenfrau Moor Myrte, die den Wald und seine Ressourcen schützt.
In ein märchenhaftes Setting verwebt Sid Sharp im Kern eine Geschichte über Konsumgier und Ausbeutung, ohne dabei an Witz und Leichtigkeit zu verlieren. Leuchtende Farben auf schwarzem Grund tragen zu Grusel und Spannung bei. „Moor Myrte” ist ein großer Spaß: schräg, politisch und umwoben von Sid Sharps prägnantem scharf-düsteren Humor. (sk)
Sid Sharp: „Moor Myrte und das Zaubergarn”
Aus dem Englischen von Alexandra Rak
NordSüd 2025, 152 Seiten, 22 Euro
Ab 8 Jahren
Vampirmädchen dürfen keinen menschlichen Besuch bekommen, denn die Vampirgemeinschaft fliegt – im wahrsten Wortsinn – lieber unter dem Radar. Karla, die Protagonistin von Ayşe Klinges Comic, setzen diese Vampirtraditionen gehörig unter Druck. Zum Beispiel will sie eigentlich nicht auf die Vampirakademie wechseln. Der titelgebende Zahn wird zum Symbol für den Veränderungsprozess, der mit der Pubertät einsetzt: Als Karla einen Milchzahn verliert, wächst ein spitzer Fangzahn nach. Zu allem Überfluss freundet sich Karla mit Mila an, die panische Angst vor Vampiren hat.
Ayşe Klinge zeichnet mit bewusst einfachem, schnellem Strich, sodass auch jüngere Leser und Leserinnen sich gut auf diese Vampir-Geschichte einlassen können. Und auch der Ton stimmt. Stilsicher erzählt die Illustratorin in ihrem ersten komplett selbst entwickelten Comic von unterschiedlichen Lebensentwürfen, von Diversität und Toleranz: Eine Coming-of-Age-Geschichte mit Hindernissen. Und das alles mit viel Witz und Leichtigkeit. (net)
Ayşe Klinge: „Der Zahn“
Kibitz Verlag 2025, 224 Seiten, 26 Euro
Ab 6 Jahren
Vor 25 Jahren begann mit der Tötung von Enver Şimşek in Nürnberg die Serie der NSU-Morde. Das weiß man heute, doch bis der „Nationalsozialistische Untergrund“ sich 2011 selbst enttarnte, nahmen die Ermittlungsbehörden eine erschütternde Täter-Opfer-Umkehr vor: Immer wieder wurden die durch den brutalen Verlust ohnehin traumatisierten Familien befragt, immer wieder wurden den Ermordeten kriminelle Handlungen unterstellt.
Gamze Kubaşık und Semiya Şimşek sind Töchter zweier NSU-Opfer. Im Jugendbuch „Unser Schmerz ist unsere Kraft“ erzählen sie eindringlich davon, wie sie die Ermordungen ihrer Väter, die ständigen Demütigungen durch die Polizei, das Tuscheln der Nachbarn erlebten. Man leidet mit bei diesem Wechselbad der Gefühle aus Trauer, Wut, Verzweiflung, Angst, dem die jungen Frauen ausgesetzt waren. Und man kann ihre Zweifel am deutschen Rechtsstaat nachvollziehen. Denn bis heute sind viele Fragen zu den Morden und zum Prozess gegen die Täter offen. Ein wichtiges Buch, das Schullektüre werden sollte. (net)
Gamze Kubaşık/Semiya Şimşek mit Christine Werner: „Unser Schmerz ist unsere Kraft. Neonazis haben unsere Väter ermordet“
Fischer Sauerländer Verlag 2025, 192 Seiten, 17,90 Euro
Ab 14 Jahren
Dieses zweieinhalb Kilogramm schwere Bilderbuch ist der Hammer! Jakob Martin Strid erzählt in bezaubernden Bildern mit fast schon magischer Anziehungskraft die Geschichte von der Suche nach der Safran-Lilie. Einer Blume, die die Welt heilen soll: Die Häuser im Hafenviertel von Ahnstarr City werden abgerissen. Die Bewohner sind rechtlos. Ein großer Atomkrieg hat vieles zerstört. Es herrscht ein schlimmer Diktator. Die Natur und die Menschen sind krank.
Der Bau des Busses und die Reise zum Märchenland sind ein großes Abenteuer. Dabei müssen nicht selten auch die eigenen Dämonen der Reisenden besiegt werden, aber genau das macht diesen Roadtrip aus und gibt dem Bilderbuch große Tiefe.
Ein feiner Strich zeichnet die farbigen Bilder aus, deren Konturen wie ausgerissen wirken. Da fliegt der Bus durch den blitzblauen Himmel vorbei an einem rosa-gelb-grünen Wolken-Haufen, aus denen Götter lachen: Ein Tiger mit Sternenaugen, ein Panther mit einem dritten Auge auf der Stirn, ein Paradiesvogel mit pfauenartigen Federn. Farbgewaltig, wohlwollend, aufregend. Eine großartige Geschichte, in der man lernt, was Kurbelwellen sind, wie der Nordpol aussieht, was Polarlichter ausmacht – und wie man Diktatoren besiegt. (kim)
Jakob Martin Strid: „Der fantastische Bus“
Aus dem Dänischen von Sigrid C. Engler
Kunstmann Verlag 2025, 204 Seiten, 68 Euro
Ab 5 Jahren
„Aal sein heißt: vier verschiedene Aale sein“, erklären Dita Zipfel und Finn-Ole Heinrich gleich zu Anfang ihres poetisch-schönen Kinderbuches. Aali heißt ihre Hauptfigur. Und wir begleiten ihn bei seiner letzten Verwandlung vom Gelbaal zum Blankaal. Wenn nichts mehr ist, wie es sein soll. Wenn Aalis Augen immer größer werden, er keinen Hunger mehr hat und plötzlich blitzschnell schwimmen kann: „Mit einer Wenigkeit, die fassungslos macht.“
Aale sind magische Überlebenskünstler! Sie durchwandern verschiedene Gewässer, können über Land schlängeln, ihre Haut nimmt Sauerstoff über die Luft auf, ihre Geschlechtsentwicklung findet erst in der letzten Lebensphase statt.
Allein diese Fakten sind höllisch beeindruckend. Doch wie Dita Zipfel und Finn-Ole Heinrich von dieser Metamorphose erzählen, welche Sprachbilder sie finden, ist schlicht überwältigend. „Diese Geschichte“, schreiben sie, „ist der Ursprung aller Geschichten.“ Und ja, es ist eine Geschichte, die alles hat: „Einen sympathischen Helden, lebensgefährliche Situationen, Liebe, Schmerz, Spannung und Geheimnis.“
Ein wunderschönes Kinderbuch, das den fantastischen Kreislauf eines Aal-Lebens auf einzigartige Weise feiert und uns gerührt und sprachlos ob der Wunder der Natur zurücklässt. (kim)
Finn-Ole Heinrich/Dita Zipfel: „Aali muss los“
Illustriert von Nele Brönner
Huckepack im mairisch Verlag 2025, 64 Seiten, 20 Euro
Ab 8 Jahren
Krieg, Zerstörung, Verlust der Heimat: Themen, die unsere Zeit prägen und die auch Kinder zutiefst verunsichern. Die Autorin Andrea Hensgen und die Illustratorin Hannah Brückner erzählen in ihrem Bilderbuch aber genau davon, auf tröstliche Weise, ohne zu verharmlosen.
Viele Kinder sind in einem Zug ohne Ziel auf Reisen. Sie fahren allein, ohne ihre Eltern durch die Gegend, nur einmal in der Woche hält der Zug für sechs Minuten an, damit die ihnen zuwinken können. Die Eltern sind schwer beschäftigt, sie müssen die zerstörte Heimat wieder aufbauen.
Die Texte von Andrea Hensgen erzählen von der Sehnsucht der Kinder nach ihrem Zuhause, aber auch von Geborgenheit in der temporären Zuggemeinschaft mit wenigen Erwachsenen, die sich liebevoll um sie kümmern. Hannah Brückners Illustrationen wechseln zwischen hell und dunkel und zeigen so die Gefühlswechsel an – die freundlichen Farben überwiegen jedoch. Ein bewegendes Bilderbuch über Zusammenhalt und Hoffnung in schwierigen Zeiten. (net)
Andrea Hensgen, Hannah Brückner (Ill.): „Wir Kinder im Zug“
Peter Hammer Verlag 2025, 44 Seiten, 20 Euro
Ab 4 Jahren
Elk und Mab sind elf, als sie sich treffen. Unzertrennlich verbringen sie fortan ihre Zeit miteinander, teilen Träume und Sehnsüchte. Doch dann passiert nach einer Party ein schlimmer Unfall und nichts ist mehr, wie es war. Wie weiterleben ohne die beste Freundin?
Jenny Valentines Geschichte ist ein gelungenes Spiel mit der Realität. Was ist wirklich passiert in dieser Nacht? Und wie sieht die Zukunft aus? Diesen Fragen spürt die Autorin emotional aufwühlend und kunstvoll nach. Es geht um das Davor und das Danach. Valentine nutzt den Schicksalsschlag, um von Umbrüchen im Leben junger Menschen zu erzählen. Sie macht die Zeit des Trauerns schmerzhaft fühlbar und feiert zugleich die Kostbarkeit des Lebens.
All das macht die in Cambridge geborene Autorin ohne Angst vor Kitsch, mit wunderschönen Sprachbildern, die immer auch gebrochen werden, ins Komische kippen und dennoch poetisch bleiben. Immer wieder überrumpelt Valentine ihre Leserinnen und Lesern, dreht unmittelbar auch die eigenen Figuren um. Was ist wahr? Was nicht? Dieses Buch hallt lange nach, ist wunderbar übersetzt von Klaus Fritz – und lohnt sich, mindestens zweimal gelesen zu werden. (kim)
Jenny Valentine: „Zwei Seiten eines Augenblicks“
Aus dem Englischen von Klaus Fritz
dtv 2025, 192 Seiten, 16 Euro
Ab 14 Jahren