Serie "Die neuen Diener"

Der Zeitdruck der Zustellenden

06:02 Minuten
Ein Fahrradkurier des Lieferdienstes "Deliveroo" fährt mit seinem Fahrrad durch den Stadtverkehr in Berlin.
Die Arbeiterinnen früher hielt die Stechuhr auf Trab, die Lieferanten heute ein Algorithmus - die Ausbeutung sei eher größer geworden, sagt der Arbeitssoziologe Günter Voss. © picture alliance / dpa / Gregor Fischer
Von Christian Schüle · 21.08.2022
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Der globale Kapitalismus hat eine neue dienende Klasse hervorgebracht. Gibt es eine Kontinuität der Ausbeutung von der Magd zur Paketbotin, vom Knecht zum Erntehelfer? Eine vierteilige Serie nimmt die Geschichte prekärer Beschäftigungen in den Blick.
Jede und jeder sieht sie, täglich und mehrfach. Meist treffen sie nacheinander ein, manchmal zweimal am Tag. DHL, Hermes, UPS, Amazon. Der Bote von DPD-Express etwa stellt den Motor seines Dieseltransporters erst gar nicht ab.
Frage zwischen Tür und Angel: Wie ist Ihre Arbeitszeit? Heute von 8 bis 13 Uhr, sagt er. Und morgen? Nachmittags, wie mit dem Chef vereinbart. Und übermorgen? Weiß er noch nicht.

Geschäftsmodell der Beschleunigung

Gegen Abend wird gemausklickt, und schon kommen die Rider: Flink, Gorillas, Getir, Wolt und: Lieferando. Orangefarbenes Fahrrad, orangefarbener Tornister.
Frage im eigenen Treppenhaus: Können Sie von Ihrer Arbeit leben? Ja, sagt der Rider, elf Euro die Stunde plus Boni plus Trinkgeld. Guter Durchschnittslohn, findet der Mann geschätzt Mitte dreißig. Und man könne sich die Arbeitszeit im Schichtsystem selbst einteilen, sagt er noch: 35 oder 48 Stunden die Woche, das lege jeder selbst fest. Leider müsse er jetzt weiter, sofort, hoch, fünfter Stock, die Zeit drängt immer ...
Lieferando, Flink und DPD-Express: Bei den fahrenden Boten steckt das Geschäftsmodell im Namen: Beschleunigung und Punktgenauigkeit. In zehn Minuten auf die Minute. „Schneller als Du“, verspricht Gorillas.

Freiwillige Selbstausbeutung

Arbeit ist Arbeit, aber Arbeit heute ist nicht mehr Arbeit wie früher. Der Kapitalismus häutet sich ständig. Seit gut dreißig Jahren herrschen in der westlichen Arbeitswelt neue Leitwerte: Selbstökonomisierung, Selbststeuerung und Selbstkontrolle.
Das arbeitende Subjekt ist sein eigener Betrieb. Diese Form der Arbeitsindividualisierung charakterisiert den lohnabhängig Arbeitenden als „Arbeitskraftunternehmer“. Geprägt hat diesen Begriff Ende der 1990er-Jahre der Industrie- und Arbeitssoziologe Gerd-Günter Voss. Er sagt: „Vielfalt und Ausdifferenzierung und hochgradige Flexibilität ist das, was für mich die Arbeit heute ausmacht.“
Das heißt: Arbeitskraftunternehmer versuchen, die eigene Arbeitskraft so effizient wie möglich einzusetzen – als individuelle Rädchen im globalen Getriebe jeder neuen Stufe des kapitalistischen Wirtschaftens. Weil die Zustellenden, die Boten und Kuriere, die Arbeitsumstände selbst nicht gestalten können, denen sie sich aus eigener Entscheidung ausliefern und aus Gründen der Existenzsicherung ausliefern müssen, könnte man das Betriebsmodell der Plattformökonomie freiwillige Selbstausbeutung nennen.

Von der Stechuhr zum Algorithmus

Allerorts klicken Konsumenten und hetzen die Boten. Ist das eine gute Nachricht? „Die Dienstleistungen, die unter der Überschrift Dienstleistungsgesellschaft entstanden sind, sind viel ausbeuterischer als die klassische Industriearbeit“, sagt Gerd-Günter Voss.
Früher regierte die Stechuhr, heute regiert der Algorithmus. Das heißt erstens: permanenter Einsatz für permanente Effizienz unter permanenter Kontrolle. Und zweitens: ständiger Wettbewerb, ständige Mobilisierung und oft genug Erschöpfung.
In der Industriearbeit des beginnenden Kapitalismus wurde der arbeitende Mensch nach Plan und Planung der Arbeitsabläufe gesteuert. So sah es das Konzept des einflussreichen US-Ökonomen Frederick Winslow Taylor vor. Dienstbeginn 7:30, klar umrissene Aufgaben, Dienstende punkt 16:00 Uhr. Danach: Freizeit, Familie, Freunde.

Trügerische Freiheit

Im Individualkapitalismus seit Ende der 1980er-Jahre wurde die strenge, tayloristische Steuerung von Arbeit durch Freiheit ersetzt: Organisiert euch selbst, hieß es. Macht die Arbeit, wann ihr wollt, aber: Schafft Eure Aufgaben!
Das Ziel der neuen Freiheit: höherer Output für die Arbeitgeber. Das forderte höhere Effizienz, diese wiederum verlangte höheren Einsatz. Das Ergebnis, siehe da: höherer Output für den Arbeitgeber.
War die „neue Freiheit“ tatsächlich ein Freiheitsgewinn oder etwa doch nur eine neue Form der Ausbeutung im Gewand der Freiheit? Vertrag ja, aber diktiert vom Arbeitgeber? Gerd-Günter Voss:
„Womit wir hier alle groß geworden sind, ist die Form von regulierter Arbeit in dem schon weiter entwickelten Kapitalismus, vor allem in den westlichen Kernländern (von der Dritten Welt reden wir gar nicht), wo Arbeit reguliert ist, und die Form von Ausbeutung, die dort entsteht, auch ein Stück weit insoweit reguliert ist, dass die schlimmsten Auswüchse begrenzt sind, aber es bleibt Ausbeutung, aber eine gut durchorganisierte Ausbeutung, vor allen Dingen in Deutschland.“

Die Arbeitenden vor der „neuen Arbeit“ schützen

Dieser „durchorganisierten Ausbeutung“ einen organisierten Schutz organisierter Verhältnisse entgegenzusetzen: Geregelte Arbeitszeiten, Dienstende, genügend Personal – darum wird es künftig gehen.
Also den Schutz der Arbeitenden vor der neuen Arbeit zu organisieren, ohne auf Taylor und die Fremdsteuerung zurückzufallen, da doch die entscheidende Frage lautet, ob die Begrenzung entgrenzter Arbeitsverhältnisse heute nicht eine Kernaufgabe jeder Arbeitspolitik sein müsste.

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