Karriere eines Begriffs

Alles prekär oder was?

Ein Paketbote der eingequetscht zwischen Kistenstapeln Pakete ausliefert.
Ist nicht eigentlich das ganze Leben wenigstens potenziell "prekär"? © Getty Images / fStop images / Malte Müller
Ein Kommentar von Timo Rieg · 18.07.2022
Mit der Diskussion um die Hartz-IV-Reformen wurde ein neuer Begriff in den Sprachgebrauch gespült: Prekarität. Keine 20 Jahre später wird "prekär" geradezu inflationär verwendet. Der Autor Timo Rieg sieht darin mehr als eine sprachliche Modeerscheinung.
Die Lage ist prekär. Die Gesamtlage. Alle Medien sind voll mit entsprechenden Nachrichten. Die Nahrungsmittelpreise explodieren, 828 Millionen Menschen sind chronisch unterernährt. "Besonders prekär sei die Lage derzeit in Somalia, Kenia und Äthiopien", heißt es im Deutschlandfunk. Zur Energiekrise kommentiert der Münchner Merkur: "Deutschlands Lage ist so prekär, dass es im Winter auf keine seiner wenigen verlässlichen Energiequellen verzichten kann, auch nicht auf die drei letzten Atommeiler.“
Die Zeitung "Kurier" vermeldet für den Westen Österreichs eine prekäre Lage für Frauen, die ihre Schwangerschaft abbrechen wollen, weil es bald keinen Arzt mehr dafür gibt. Und beim Frauenfußball des VfL Wilhelmshaven wird eine "prekäre personelle Lage" berichtet, nachdem eine Zusammenarbeit mit dem Wilhelmshavener Sport Club FRISIA 1895 nicht zustande kommt. Wir merken: Von klein bis sehr, sehr groß haben wir es mit prekären Lagen zu tun.

Wo kommt der inflationäre Gebrauch her?

Es dürfte noch keine zwei Jahrzehnte her sein, da war Prekarität nur ausgesuchten Soziologen geläufig. Sie bezeichneten damit instabile Beschäftigungs- und Lebensverhältnisse. Dann kamen die Arbeitsmarktreformen der Schröder-Fischer-Regierung ab Ende 2002, bis heute vor allem mit dem Begriff "Hartz IV" verbunden.
Und 2006 erschien eine viel beachtete Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung unter dem Titel "Prekäre Arbeit", in der die Worte "Prekariat" und die ihm angehörenden "Prekarier" noch in Anführungszeichen gesetzt wurden. Zutreffend prognostizierte diese Studie den Begriffen "Prekäre Beschäftigung, Prekarität und Prekarisierung" denn auch gleich eine "steile Karriere" – die sie wohl wesentlich mit angeschoben hat.

Nichts ist mehr hundertprozentig sicher

Seitdem ist jedenfalls vieles prekär geworden. Vor allem Arbeitsverhältnisse: Sogenannte Minijobs und Teilzeitstellen, aber auch Soloselbstständige, Künstler, freie Journalisten und viele Wissenschaftler gelten als prekär beschäftigt, wenn keine anderen Einnahmen oder Vermögen vorhanden sind, die finanzielle Sicherheit garantieren können. 
Dabei ist nichts hundertprozentig sicher. Die Zinsen schießen in die Höhe und viele noch nicht bezahlte Eigenheime wackeln trotz sicherer Einkommen. Ein gut verdienender Influencer kann von heute auf morgen alle seine Jobs los sein. Und selbst Beamte verlieren mit einem entsprechenden Fehltritt Besoldung und Pensionsanspruch.
Ist nicht eigentlich das ganze Leben wenigstens potenziell "prekär"? Und ist nicht vielleicht problematischer als das inflationäre Identifizieren von Prekarität zu glauben, im Gegensatz dazu sei alles andere nicht-prekär und damit sicher? Schließlich wird "prekär" auch als Abgrenzung genutzt, insbesondere beim Wohlstand. Prekarier gehören in den Augen vieler zur Unterschicht, von der man sich distanzieren möchte.

Jetzt wird auch noch über Wärmehallen gesprochen

Dabei kann es so schnell gehen. So etwas Banales wie Heizungswärme galt uns im reichen Deutschland bis gerade eben noch als Selbstverständlichkeit. Nun wird über Wärmehallen gesprochen, in denen im Winter unterkommen soll, wer sich das Heizen der eigenen Wohnung nicht mehr leisten kann.
Wir haben eines der teuersten Gesundheitssysteme der Welt, pro Einwohner kostet es uns jährlich 5300 Euro, und doch ist es seit zweieinhalb Jahren in Dauerkrise – und gerade wurde wieder eine prekäre Lage für viele Krankenhäuser ausgerufen, "wegen der Sommerwelle".
Natürlich ist nicht alles "in einer Weise geartet, die es äußerst schwer macht, die richtigen Maßnahmen oder Entscheidungen zu treffen, aus einer schwierigen Lage herauszukommen", wie uns der Duden das Adjektiv "prekär" erklärt. Aber: Alles kann prekär werden, unsere Gesundheit, der Frieden, die Trinkwasserversorgung.
Darauf mit totaler Prekarisierungsangst zu reagieren, ist sicherlich nicht hilfreich. Aber auch die Dinge im Auge zu behalten, die uns gesichert und selbstverständlich erscheinen, und sich gegebenenfalls lieber frühzeitig um sie zu sorgen, das könnte uns die ein oder andere prekäre Lage ersparen.

Timo Rieg ist Buchautor und Journalist. Seine zuletzt erschienenen Bücher sind „Demokratie für Deutschland“ und der Tucholsky-Remake „Deutschland, Deutschland über alles“. Zum Thema „Bürgerbeteiligung per Los“ bietet Timo Rieg zudem eine Website mit Podcast an.

Porträtaufnahme des Autors Timo Rieg
© privat
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