Als prekär kann ein Erwerbsverhältnis bezeichnet werden, wenn die Beschäftigten aufgrund ihrer Tätigkeit deutlich unter ein Einkommens-, Schutz- und soziales Integrationsniveau sinken.
Serie "Die neuen Diener"
Immer der Arbeit nach: Die Landwirtschaft ist in hohem Maße auf Saisonkräfte angewiesen. © picture alliance / Zoonar
Die Wanderung der Erntenden
05:55 Minuten
Der globale Kapitalismus hat eine neue dienende Klasse hervorgebracht. Gibt es eine Kontinuität der Ausbeutung von der Magd zur Paketbotin, vom Knecht zum Erntehelfer? Eine vierteilige Serie nimmt die Geschichte prekärer Beschäftigungen in den Blick.
Deutschland vor 200 Jahren, um 1822, an der Schwelle vom Feudalismus zum Kapitalismus. Landwirtschaftliche Zuarbeiter, häusliche und gewerbliche Gehilfen, Knechte und Mägde bei Bauern und Adligen, persönliche Diener bei städtischen Herrschaften und Fürsten, ungebildete Handarbeiter und hochgebildete Lehrkräfte – sie alle lebten eingebunden in den Familienverbund, manchmal ihr ganzes Leben lang: unter der Treppe, in Kellern, in kleinen Zimmern. Die sexuelle Ausbeutung der Frauen in der jeweiligen Patriarchialgemeinschaft inklusive.
In Gotthart Frühsorges Buch „Gesinde im 18. Jahrhundert“ heißt es: „Das Gesinde wurde nicht selten elend behandelt, schlecht besoldet, genährt und gekleidet.“
Profit aus prekären Verhältnissen
Nach Lage der Dinge hat sich bis heute vieles verbessert, obwohl das kapitalistische System von Profitinteresse und Akkumulation prekäre Verhältnisse für die Arbeitenden immer schon vorausgesetzt hat. Das galt früher wie es heute gilt, auch wenn "Arbeit" heute keineswegs mehr die Arbeit von früher ist.
Seit Ende der 1980er-Jahre die Dienstleistungsgesellschaft in ihrer dann zunehmend digitalen Formatierung eine neue dienende Klasse hervorgebracht hat, heißt Arbeit vor allem: Steigerung des Leistungsdrucks in allen Bereichen, Beschleunigung und zunehmende Prekarisierung.
Leben in ständiger Unsicherheit
Das Wort „prekär“ bezeichnet den Zwischenraum zwischen unsicherem Wohlstand und drohender Armut. Prekäre Arbeitsverhältnisse sind hochgradig unsicher, nicht dauerhaft ernährend, psychisch und körperlich zum Teil stark belastend.
Vom Leibeigenen zum Diener
Ende des 19. Jahrhunderts kamen die, die ernteten, was gesät wurde, aus Schlesien, Ostpreußen oder Hessen-Nassau. Es waren Hopfenpflücker, Drescher, Ochsenjungen. Heute, 100 Jahre später und 200 Jahre nach dem Aufstieg des Kapitalismus aus dem Feudalismus, kommen die Erntenden aus Rumänien, Bulgarien, Polen und Albanien.
Anfang des 19. Jahrhunderts befreite der erste Kapitalismus die Dienenden aus der Leibeigenschaft, und nun, im Zenit des entgrenzten Digital- und Plattformkapitalismus, sprechen manche von „Re-Feudalisierung“ des Dienstleistungssektors.
Sachlich ist das falsch. Warum? Weil der Feudalismus ein von Kirche und Adel getragenes System unfreier Leibeigener oder Knechte war. Die Saisonarbeiter heute aber sind frei: Sie können jederzeit kündigen, Verträge auflösen und gehen.
„Die leben nicht im Haushalt, bis auf wenige, sie sind nicht Leibeigene von Adeligen und Fürsten und berühmten Großunternehmen, die sind sehr vielmehr im engeren Marx’schen Sinne lohnabhängige Arbeitskräfte, aber mit Löhnen, von denen man nicht mehr leben kann“, erklärt der Industriesoziologe Gerd-Günter Voss.
Freiheit und Zwang zur Flexibilität
Der Arbeitstag der Landarbeiterinnen und Landarbeiter vor 200 Jahren wurde von Sonnenauf- und -untergang bestimmt. Die Person hatte einen Gegenwert. Heute wird der Tag von flexiblen Arbeitszeiten bestimmt, mit oder ohne Sonne. Die Stunde hat einen Gegenwert.
Damals schwankten die Lohnhöhen regional und zeitlich. Heute gibt es für alle den gesetzlichen Mindestlohn: bis Oktober 2022 noch 10,45 Euro, danach 12 Euro brutto die Stunde. Die Frage ist nur, ob er gezahlt wird – rechtzeitig und vollständig.
„Die Veränderungen des kapitalistischen Geistes gehen immer mit tiefgreifenden Wandlungen der Lebens- und Arbeitsbedingungen einher“, so lautet die Quintessenz der französischen Sozial- und Wirtschaftswissenschaftler Luc Boltanski und Ève Chiapello, die die Transformation des Kapitalismus untersucht haben.
Letztlich heißt das: Der Kapitalismus ist so flexibel, wie er permanente Flexibilität voraussetzt.
Anders als im 19. Jahrhundert, da die Leitwerte Fleiß, Gehorsam und Ordnung waren, haben wir es heute mit einer schwer regulierbaren Rationalität der Entgrenzung zu tun – weshalb "Freiheit" als Freiheit zur Flexibilität immer auch: Zwang zur Flexibilität heißt.
Getrieben von Sorge um die Existenz
Die Angehörigen der neuen dienenden Klasse wandern über Landesggrenzen hinweg. Sie haben oft mehrere Jobs zugleich, über Branchen hinweg. Sie verlassen für Monate ihre Familien und heuern dort an, wo sie gebraucht werden – von keinem Patriarch oder Direktor gezwungen, aber getrieben von der Sorge um die eigene Existenz, weshalb Selbstbestimmung und Ausbeutung bei den neuen Formen von Arbeit paradoxerweise nah beieinander liegen.
„Jetzt ist es eher so, dass die Prekarität bis auf wenige Ausnahmen sehr viel universeller geworden ist", sagt Gerd-Günter Voss: "sehr viel offener, flexibler und damit eigentlich auch verstörender.“
Die Erntenden aber werden zu allen Zeiten wandern, denn die globale Reservearmee der Welt ist unerschöpflich.