Nan-Goldin-Retrospektive

Erst brüllen, dann diskutieren

Nan Goldin, Fotografin, spricht in der Ausstellung «Nan Goldin. This Will Not End Well» in der Neuen Nationalgalerie mit der Presse. Mit der Retrospektive wird erstmals ein umfassender Einblick in das Schaffen von Nan Goldin von 1980 bis heute gegeben.
Nan Goldin hielt zur Eröffnung ihrer Retrospektive in der Neuen Nationalgalerie eine Rede. Darin sprach sie nicht über ihre Kunst, sondern über Israel, Deutschland und den Krieg in Nahost. © picture alliance / dpa / Fabian Sommer
Die Neue Nationalgalerie ehrt Nan Goldin mit einer Retrospektive. Zur Eröffnung kritisiert die Künstlerin Israel und Deutschland scharf, der Museumschef wird niedergeschrien. Bei einem Symposium soll nun anders über Kunst und Nahost diskutiert werden.
Nan Goldin ist eine der renommiertesten Fotokünstlerinnen der Gegenwart. Mit ihrer "Ballade von der sexuellen Abhängigkeit", einer Diashow, die mehrere hundert Fotos umfasst, rückte sie die LGBTQ-Szene schon Mitte der 1980er-Jahre ins öffentliche Bewusstsein. In einer Retrospektive mit dem Titel „This will not end well“ in der Neuen Nationalgalerie in Berlin wird sie nun geehrt.
Die Schau war schon in Stockholm und Amsterdam zu sehen und zieht nächstes Jahr nach Mailand und Paris weiter. Bislang verlief sie ohne Zwischenfälle, doch in Berlin ist Goldin bereits vor Ausstellungsbeginn in eine aufgeheizte Debatte um Antisemitismus in der Kunstszene geraten. Die US-amerikanische, jüdische Künstlerin gilt als Unterstützerin der BDS-Bewegung, die in Deutschland als antisemitisch eingestuft wird.
Bei der Eröffnung der Retrospektive am Freitag (22.11.), bei der Goldin eine Rede hielt, kam es erneut zum Eklat. Ein Symposium am darauffolgenden Sonntag sollte helfen, über grundsätzliche Fragen rund um den Nahostkonflikt ins Gespräch zu kommen. Doch mehrere prominente Speaker sagten schon im Vorfeld ihre Teilnahme ab.

Welche Haltung nimmt Nan Goldin im Nahostkonflikt ein?

Goldins Position gegenüber Israel gilt seit dem Angriff der Hamas auf Israel als streitbar. Sie ist eine von 8.000 Unterzeichnern eines nach dem 7. Oktober 2023 in der Kunstzeitschrift "Artforum" erschienenen offenen Briefs, in dem Israel für seine Reaktion auf den Hamas-Überfall scharf kritisiert wird. Die Hamas und deren Opfer wurden zunächst nicht erwähnt, in einem Update vom 23. Oktober 2023 wurde dies nachgeholt.
Am 9. November hat Goldin mit vielen anderen Künstlern und Künstlerinnen gegen die ihrer Meinung nach zu israelfreundliche Berichterstattung der Tageszeitung "New York Times" protestiert. Die Demonstration in New York ist am Ende eskaliert. Goldin hat nach Berichten der Wochenzeitung "Die Zeit" auch immer wieder Statements der anti-israelischen Bewegung Boycott, Divestment and Sanctions (BDS) unterschrieben.
Die Künstlerin Nan Goldin wird am 14. Oktober bei pro-palästinensischen Protesten in New York, organisiert von der Organisation Jewish Voices for Peace, vorübergehend festgenommen.
Die Künstlerin Nan Goldin wurde am 14. Oktober bei pro-palästinensischen Protesten in New York, organisiert von der Organisation Jewish Voices for Peace, vorübergehend festgenommen.© picture alliance / Sipa USA / Laura Brett

Was ist bei der Eröffnung der Ausstellung in Berlin passiert?

Bei der Eröffnung ihrer Retrospektive in der Neuen Nationalgalerie am 22. November hielt Nan Goldin eine Rede. Diese begann die Künstlerin mit einer vierminütigen Schweigepause, um an die Todesopfer in den palästinensischen Gebieten, im Libanon und auch in Israel zu erinnern, wie sie sagte.

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Danach warf Goldin Israel einen Völkermord in Gaza und im Libanon vor. Die Fotografin verglich Israels Vorgehen in Gaza zudem mit Pogromen gegen Juden: "Meine Großeltern entkamen den Pogromen in Russland. Ich bin mit dem Wissen über den Nazi-Holocaust aufgewachsen", sagte Goldin. "Was ich in Gaza sehe, erinnert mich an die Pogrome, denen meine Großeltern entkommen sind."
Die Fotografin kritisierte außerdem Deutschlands Haltung zum Nahostkonflikt. Deutschland sei die Heimat der größten palästinensischen Diaspora Europas. "Dennoch werden Proteste mit Polizeihunden bekämpft", sagte Goldin.
Zuspruch erhielt die Künstlerin durch propalästinensische Aktivistinnen und Aktivisten. Als Klaus Biesenbach, der Direktor der Neuen Nationalgalerie, versuchte, eine Gegenrede zu Goldin zu halten, wurde er niedergeschrien.

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Hermann Parzinger, der Präsident der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, zu der die Neue Nationalgalerie gehört, nannte Goldins Äußerungen "unerträglich" und "gefährlich verharmlosend". Auch Kulturstaatsministerin Claudia Roth äußerte sich zum Eklat bei der Eröffnung. Die Grünen-Politikerin kritisierte die propalästinensischen Proteste. "Ich bin entsetzt, wie der Direktor der Neuen Nationalgalerie niedergebrüllt wurde", sagt sie. So ein Verhalten sei absolut inakzeptabel. Sie verurteile diesen Angriff auf das Museum und die kulturelle Arbeit auf das Schärfste.
"Es war alles vorherzusehen", sagte Meron Mendel, Co-Kurator des Symposiums im Rahmen der Goldin-Ausstellung, über den Eklat bei der Eröffnung. "Wir wussten, dass Nan Goldin die Bühne nutzen wird, um ihren politischen Aktivismus zum Ausdruck zu bringen", so Mendel. "Wir wussten auch, dass es von Pro-Palästina-Kreisen Mobilisierung für diesen Abend gibt." Er selbst würde nicht so extrem auf den Abend reagieren wie Parzinger und Roth, sagte der Direktor der Bildungsstätte Anne Frank. Dass Protest auch mal störe, lautstark und unangenehm sei, gehöre zu einer offenen und liberalen Gesellschaft.

Welches Anliegen verfolgt das Symposium?

Das Symposium "Kunst und Aktivismus in Zeiten der Polarisierung", organisiert von Mendel und der Politologin Saba-Nur Cheema, soll die erwartbare Debatte rund um Goldins Haltung zum Nahostkonflikt ergänzen und helfen, über grundsätzliche Fragen rund um den Nahostkonflikt ins Gespräch zu kommen. Mendel und Cheema setzen sich als jüdisch-muslimisches Paar seit dem Antisemitismus-Skandal auf der documenta unermüdlich für einen Dialog ein.
Goldin - die ebenfalls eingeladen wurde, eine Teilnahme jedoch ablehnte - sei zwar Anlass, aber nicht Thema des Symposiums, betonte die Politologin Cheema im Vorfeld. Vielmehr wolle man die Polarisierung in der Kunst- und Kulturszene mit Blick auf den Nahostkonflikt kontrovers diskutieren, dabei sollen sowohl pro-israelische als auch pro-palästinensische Stimmen zu Wort kommen.
Eingeladen waren die deutsche Künstlerin Hito Steyerl als Keynote-Speakerin, die sich klar gegen Antisemitismus in der Kunst positioniert hat, und die US-amerikanische, jüdische Publizistin Masha Gessen, die sich 2023 in einem Essay in der US-Zeitschrift "The New Yorker" kritisch mit deutscher Erinnerungskultur auseinandersetzt. Zugesagt hatten ursprünglich auch die südafrikanische, in Berlin lebende jüdische Künstlerin Candice Breitz, die selbst von der Absage einer Ausstellung in Deutschland betroffen war, sowie Leon Kahane, Ruth Patir, Eyal Weizman und die palästinensischen Künstler Osama Sattar und Muhammad Zuhri.
"Diese Menschen sind bereit, raus aus dieser binären Debattenkultur zu kommen und mitzudiskutieren", sagte die Politologin Cheema. Es gehe nicht um Konsens, sondern darum, "Positionen auszutauschen". Inzwischen steht fest, dass viele der ursprünglich Eingeladenen nicht teilnehmen.
Keynote-Speakerin Hito Steyerl sagte ihre Teilnahme ab. Auch Candice Breitz zog ihre Zusage zurück, Masha Gessen und Eyal Weizman nehmen ebenfalls nicht teil. Das Symposium findet nun mit einer deutlich veränderten Speakerliste statt.

Wie kam es im Vorfeld der Ausstellung und des Symposiums zum Eklat?

In einem Instagram-Post forderte die Initiative "Strike Germany", die auch zum Boykott Deutschlands wegen seiner Unterstützung für Israel aufruft, dazu auf, das Symposium abzublasen: "Shut it down". Die Veranstaltung wurde als eine bezeichnet, "die von Zionisten dominiert wird, die den Völkermord [in Gaza, Anm. d. Red.] leugnen". Wer hinter der Initiative steht, weiß man nicht.
Auf Instagram änderte "Strike Germany" den Titel des geplanten Symposiums in "Vagheit und Vermeidung in Zeiten des Genozids".
Nan Goldins Account "nangoldinstudio" likte den Post von "Strike Germany" - und schrieb in einem Kommentar darunter: „Für mich ist klar, dass das Museum dieses Symposium prophylaktisch organisiert hat, um seine Position in der deutschen Diskussion zu sichern - mit anderen Worten, um zu beweisen, dass sie meine Politik nicht unterstützen.“

Welche Rolle spielt die Antisemitismus-Resolution im deutschen Kulturbetrieb?

Anfang November hatte der Bundestag eine Resolution verabschiedet, die dafür eintritt, den Kampf gegen Antisemitismus zu verstärken. Dazu taten sich die ehemaligen Ampel-Fraktionen und die Union zusammen, was als Novum gilt. Das Papier spricht sich angesichts einer deutschen Staatsräson gegenüber Israel für ein systematischeres Vorgehen gegen Judenhass aus – etwa mithilfe des Straf- und Aufenthaltsrechts, aber eben auch mithilfe von Kulturpolitik.
So sollen Initiativen, die die Boykott-Bewegung BDS aktiv unterstützen, keine staatliche Förderung erhalten. Gleiches gilt für die Verbreitung von Antisemitismus und für das Infragestellen des Existenzrechts Israels. Grundlage dieser Aussagen ist die Antisemitismus-Definition der IHRA, der „International Holocaust Remembrance Alliance“. Sie bezieht explizit den Staat Israel als Ziel von Antisemitismus mit ein, wenn er als jüdisches Kollektiv verstanden wird.
Diese engere Auslegung des Antisemitismus-Begriffs ruft seit Jahren heftige Kritik im Kulturbetrieb hervor. Zahlreiche Künstlerinnen, Kuratoren und Intendantinnen fühlen sich dadurch in ihrer grundgesetzlich gesicherten Kunstfreiheit eingeschränkt, denn sie vermuten, dass mit dieser Definition kaum mehr legitime Kritik an der Politik Israels möglich sei. Sie befürchten den Entzug staatlicher Gelder auf Grundlage einer pauschalisierenden Antisemitismus-Definition und den Ausschluss zahlreicher israelkritischer Künstlerinnen, gerade aus dem arabischen und muslimischen Raum, aber auch aus den USA, Frankreich und Großbritannien.
Auf Grundlage dieser Bundestagsresolution ist ein direkter Entzug von Geldern zwar nicht möglich, sie hat in erster Linie symbolischen Charakter. Dennoch hat sie Gewicht, denn sie ist parteienübergreifend mit großer Mehrheit verabschiedet worden und setzt ein Zeichen an Behörden und Ministerien im Bund und in den Ländern. Die Kritik daran jedenfalls verstummt nicht, was verschiedene Protestbriefe und Unterschriftenlisten aus dem Kulturbetrieb zeigen.

Vladimir Balzer, tha, jfr
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