Philosophischer Winterkommentar

Grausig grau

04:24 Minuten
Ein großer Vogel fliegt nachts durch Schneefall. Es ist eine Graueule.
Ist das die Eule der Minerva? Über sie hat Hegel gesagt: „Wenn die Philosophie ihr Grau in Grau malt, dann ist eine Gestalt des Lebens alt geworden.“ © imago / Agami / Markus Varesvuo
Von Andrea Roedig |
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Tagelang eingehüllt in Grau. Nicht nur in Großstädten kann einem diese Unfarbe aufs Gemüt schlagen. Dabei ist Grau nicht gleich Grau, sondern ganz im Gegenteil der Ton mit den meisten Differenzierungen. Eine kleine philosophische Meditation.
Grau ist die schlimmste aller Farben! Die Asche ist grau, der Staub, der Dreck und die Maus. Grau sind auch Ratten, der Nebel, der Dunst und der Fels. Das Graue gehört, wie Schwarz und Weiß, zu den sogenannt unbunten Farben, nur ist es eben keines von beiden – weder Schwarz noch Weiß – oder auch beides zugleich. Kurzum: Unentschieden bis ins Mark ist das Graue, indifferent und lichtlos (denn ja, nachts sind auch alle Katzen grau).

So viele Abstufungen!

Der Alltag ist grau, das Alter, der Krieg und zerstörte Städte. Alles Trostlose ist grau. Gibt es nichts Gutes an dieser Farbe? Interessant ist, dass Grau sich aus Schwarz und Weiß mischen lässt, aber auch aus den Grundfarben Rot, Gelb und Blau. Wenn man die in gleicher Mischung übereinanderlegt, ergibt sich das „Neutralgrau“ – als enthielte Grau alle Farben in sich oder als schluckte es sie einfach weg.
Interessant am Grau ist auch, dass es wesentlich mehr Abstufungen kennt als andere, buntere Farben. Die RAL-Farbpalette etwa führt 38 Grautöne an, aber nur 25 für Rot und Blau. Da gibt es Seidengrau und Kieselgrau, Zementgrau und Schiefergrau, Zeltgrau und Verkehrsgrau. In sich kennt das Grau also ziemlich viele Nuancen.

Schon Hegel dachte ans Grau

Natürlich, das muss an dieser Stelle gesagt sein, ist Grau eine durch und durch philosophische Farbe. Peter Sloterdijk hat ihr ein ganzes Buch gewidmet mit der kühnen These: Solange man das Grau nicht gedacht habe, sei man kein Philosoph. Grau findet er in Platons Höhle, bei Nietzsche, bei Heidegger und explizit bei Hegel, der ja in einem sehr berühmten Satz erklärt hat, die Eule der Minerva – also die Weisheit – fliege erst bei Dämmerung: „Wenn die Philosophie ihr Grau in Grau malt, dann ist eine Gestalt des Lebens alt geworden.“
Will heißen, Philosophie erkennt immer erst im Nachhinein, wenn die Party schon vorbei. Ob solche Aussagen dazu angetan sind, das Image des Grau und der Philosophie zu verbessern? Das darf bezweifelt werden.

Eine Dienerin par excellence

Nein, um das Grau in seinem Wesen zu verstehen, um es zu mögen, muss man Architekt*innen befragen. Grau ist nämlich deren Lieblingsfarbe. Warum? Weil Grau bescheiden ist und sich nicht in den Vordergrund drängt. Grau ist die ideale Begleitfarbe, eine Dienerin par excellence.
Weil es keine harten Kontraste bildet, lässt Grau alle anderen Farben leuchten, lässt sich kombinieren mit was auch immer. Daher sind Flächen, die lange halten sollen, eher grau – Badezimmerkacheln zum Beispiel. An gewagten Farben sieht sich der Mensch schnell satt, nicht so am dezenten Grau.

Die Lieblingsfarbe der Architektur

Grau ist edel, Grau ist vielfältig, mit Grau kann man auch wirklich nicht viel falsch machen. Außerdem fällt Schmutz auf Grau am wenigsten auf. Ja, will man den Architekt*innen glauben, dann regt das schlichte Grau unsere Fantasie erst wirklich an. Man kann sich, wie auf jeder guten Schwarz-Weiß-Fotografie, alle möglichen Farben hinzuimaginieren.
Ist Grau im Grunde also die beste, die schönste aller Farben, gerade weil sie eine Unfarbe ist? Als Idee klingt das toll. Nur angesichts des trostlos-festen Himmelgrau vorm Fenster möchte ich aus empirischer Not und aus philosophischer Perspektive heftig widersprechen. Wenn sich etwas, das für den Hintergrund gedacht ist, so sehr in den Vordergrund drängt wie zu dieser Jahreszeit, dann ist der Sache nicht zu helfen. Grau verfehlt hier definitiv seine Bestimmung und ist im Winter die schlimmste aller Farben.

Andrea Roedig ist Philosophin und Publizistin. Sie ist Mitherausgeberin der österreichischen Kultur- und Literaturzeitschrift "Wespennest". 2015 erschien gemeinsam mit Sandra Lehmann der Interviewband "Bestandsaufnahme Kopfarbeit" (Klever Verlag) und 2022 die autofiktionale Erzählung "Man kann Müttern nicht trauen" bei dtv.

Porträt der Publizistin Andrea Roedig.
© Elfie Miklautz
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