Andrea Roedig: "Man kann Müttern nicht trauen"

Von der eigenen Mutter verlassen

12:17 Minuten
Andrea Roedig in einer Bomberjacke vor Pflanzen guckt schräg nach oben und lächelt
Andrea Roedig hat mit "Man kann Müttern nicht trauen" ihr wohl persönlichstes Buch geschrieben. © Markus Rössl
Andrea Roedig im Gespräch mit Joachim Scholl · 28.03.2022
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Geschichten über Mütter handeln oft von Fürsorge und Liebe. Doch Publizistin Andrea Roedig musste in ihrer Kindheit etwas anderes erleben. Erst kam der Alkohol, dann die Arbeitslosigkeit und dann verließ ihre Mutter die Familie.
Wissenschaftlerin, Herausgeberin, Kritikerin, Autorin – Andrea Roedig hat in ihren 59 Jahren schon viel erreicht. Oft hat das Elternhaus mit solchen Karrieren zu tun, doch nicht in diesem Fall. Davon handelt das Buch "Man kann Müttern nicht trauen", indem Roedig sich mit ihrer Mutter Liselotte auseinandersetzt.
Liselotte, Lilo genannt, ist Nachkriegskind und stammt aus Düsseldorf. Ihr Vater stirbt im Russlandfeldzug, als sie vier Jahre alt ist und von ihrer Mutter erfährt sie Gewalt. Später, als hübsche Modefachverkäuferin, lernt sie den Sohn einer Metzgerdynastie kennen, heiratet ihn und bekommt zwei Kinder – Andrea Roedig und ihren Bruder.

Nur am Anfang eine Aufstiegsgeschichte

Was wie eine Aufstiegsgeschichte anfängt, hält leider nicht lange. Roedig vermutet Kriegstraumata, die zu der Dysfunktionalität in ihrem Elternhaus führen. Sowohl Vater als auch Mutter werden alkoholabhängig, Lilo nimmt zudem Tabletten. Irgendwann geht die Metzgerei pleite.
Dann folgt ein rasanter sozialer Abstieg. Schließlich kommen Vater und Kinder beim Großvater unter, doch Lilo wird nicht mit aufgenommen und verschwindet für drei Jahre aus dem Leben von Andrea Roedig. Die Beziehung zwischen Mutter und Tochter wird sich davon nie wieder erholen.

Keine Abrechnung und keine Schuldzuweisung

Das Buch, über ihre 2015 verstorbene Mutter, sei ein Versuch der Annäherung, so die Autorin. Eine Suche nach der Person, die Lilo war und ob sie Schuldgefühle hatte. Dabei geholfen haben Roedig kistenweise Tagebücher, die sie führt, seit sie zwölf ist. Die entstandene Geschichte beschreibt sie selbst als ambivalent.
"Es ist keine Abrechnung, es ist keine Schuldzuweisung. Ich glaube, dass Schuld, die zwischen Müttern und Kindern steht, nicht gut ist, weil sie das Reden und den Kontakt verhindert."

Das Buch als Happy End

Gespalten seien auch die Reaktionen, die die Publizistin auf "Man kann Müttern nicht trauen" bekommt. Viele würden die reale Geschichte wie einen Roman lesen, einige heulten Rotz und Wasser, wieder andere legten das Buch weg, weil sie es nicht aushalten können.
Für Roedig selbst sei das Buch eine Art Happy End, weil Dinge erst losgelassen werden können, wenn sie in Sprache gefasst wurden. Jetzt sei es fast nicht mehr ihre Geschichte, sondern eine, die alle lesen können und die hoffentlich gar nicht als persönlich gelesen wird und vielen etwas sagt.
(hte)
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