Kommentar

Gewalt im Gazastreifen: Das Versagen der Begriffe

06:26 Minuten
Rauch über Gaza-Stadt nach einem israelischen Angriff.
Der Gazastreifen ist nur noch eine Mondlandschaft: Rauch über Gaza-Stadt nach einem israelischen Angriff. © picture alliance / Anadolu / Khames Alrefi
Überlegungen von Nils Schniederjann |
Audio herunterladen
Mit Blick auf das Geschehen in Gaza sprechen wir meistens von „Krieg“, einige internationale Organisationen auch von „Genozid“. Doch beide Begriffe passen nicht wirklich zu der Gewalt im Gazastreifen.
Am 7. Oktober 2023 und bis März dieses Jahres war Herzl Halevi Generalstabschef der IDF, der israelischen Armee. Vor drei Wochen hat er das kleine Dorf Ein HaBesor an der Grenze zu Gaza besucht. Im Gespräch mit den Einwohnern entschuldigte er sich für das Versagen der IDF am 7. Oktober.
Dann kam er auf die Reaktion Israels zu sprechen: „In Gaza leben 2,2 Millionen Menschen, von denen mehr als zehn Prozent getötet oder verwundet wurden“, erklärte er den Bewohnern. Und sagte: „Das hier ist kein sanfter Krieg.“

Über 66.000 tote Palästinenser

Halevi bestätigte damit die international anerkannten, aber offiziell von Israel bestrittenen Zahlen des Gesundheitsministeriums in Gaza. Demnach sind inzwischen 66.005 Menschen gestorben, mindestens 168.000 wurden verletzt. Auf israelischer Seite fielen seit Beginn der Bodenoffensive 466 Soldaten.
Nein, das ist kein sanfter Krieg. Aber kann man es angesichts dieses Verhältnisses überhaupt noch als „Krieg“ bezeichnen? Schaut man auf die Situation, haben wir zwei Tatsachen vor uns, die beide wahr sind. Aber wir haben keine Sprache, die beide gleichzeitig fassen kann.

Der Terror der Hamas

Tatsache eins: Am 7. Oktober hat die Hamas Israel angegriffen. Fast 1.200 Menschen starben, 250 weitere wurden als Geiseln verschleppt und seitdem unter unmenschlichen Bedingungen gehalten oder getötet. Die Hamas hat mehrfach angekündigt, weiterzumachen, bis Israel ausgelöscht wäre.
Tatsache zwei: Israel belagert Gaza seit 17 Jahren, Israelis kontrollieren die Zufuhr von Wasser, Strom, Hilfsgütern, den gesamten Personen- und Warenverkehr. Seit zwei Jahren führt der Staat Krieg, nicht hauptsächlich gegen die Hamas, sondern gegen eine Bevölkerung, die nicht fliehen kann. Seitdem sind mindestens 66.000 Palästinenser gestorben.

Zwei Begriffe, zwei Deutungsmuster

Mit welchen Begriffen versuchen wir, dieses Geschehen zu beschreiben? Die meisten deutschen Medien sprechen einfach vom „Gaza-Krieg“, erklären, dass Israel sich in diesem Krieg gegen einen terroristischen Angriff verteidigt.
Das macht den 7. Oktober sichtbar, aber die Asymmetrie unsichtbar. Es suggeriert: Israel ist in Gefahr, muss sich schützen, handelt aus Notwehr. Wenn wir „Krieg“ sagen, aktivieren wir ein Deutungsmuster: Zwei Parteien kämpfen, beide bewaffnet, beide gefährdet, beide verantwortlich. Dabei existiert diese Symmetrie längst nicht mehr.
Oder wir sagen „Genozid“, sprechen von Völkermord, wie es inzwischen zahlreiche Menschenrechtsorganisationen und die UN tun. Der Begriff erfasst das Ausmaß, die Zerstörung, die dokumentierte Vernichtungsrhetorik; und er aktiviert ein völlig anderes Muster: Ein Staat vernichtet systematisch und mit Absicht eine Gruppe von Menschen.
Aber: Der Begriff ist historisch derart aufgeladen und durch Benutzung vor dem 7. Oktober entgrenzt, dass er die konkrete Situation in Gaza fast zwangsläufig überlagert. Zudem verschleiert er, dass es einen Angriff gab, auf den reagiert wurde. Er suggeriert: Israel ist der Aggressor, Gaza reines Opfer.
Beide Begriffe haben ihre Berechtigung. Aber beide sind unvollständig.
Das gilt für alle Begriffe, die uns zur Verfügung stehen. Die Geschichte kennt viele Formen der Kriegsführung. Den Blitz- oder Cyberkrieg, den gerechten und den heiligen Krieg, Präventiv- und Stellungskriege, den Vernichtungs- oder den Weltkrieg.

Die Architektur der Sprache

Doch jeder dieser Begriffe ist historisch überlagert, sie alle tragen frühere Konflikte in sich. Wir beschreiben Gaza immer auch durch das, was wir aus anderen Kontexten kennen – und gerade dadurch entgleitet uns das Spezifische. Die gesamte Architektur unserer Sprache – Krieg, Selbstverteidigung, Terrorismus, Völkermord – ist auf Entweder-oder ausgelegt, nicht auf Sowohl-als-auch.
Dabei gab es den Angriff der Hamas und es gibt die extreme Asymmetrie des folgenden Krieges. Es gibt die israelische Übermacht und trotzdem die Verantwortung der Hamas. Es gibt noch immer israelische Geiseln und es gibt gleichzeitig 66.000 tote Palästinenser. Beides ist wahr. Aber unsere Begriffe sind nicht darauf ausgelegt, beides gleichzeitig zu sehen.

Angriff und Übermacht, Geiseln und Zerstörung

Vielleicht braucht es tatsächlich einen neuen Begriff. Einen, der nicht zwingt, entweder den 7. Oktober oder die 66.000 Toten zu betonen. Einen, der beides sehen lässt: den Angriff und die Übermacht, die Geiseln und die Zerstörung, die Verantwortung und die Asymmetrie.
Vielleicht versagt die Sprache aber auch einfach vor dem Leid, das seit zwei Jahren im Nahen Osten tagtäglich geschaffen wird. Vielleicht kann es einen solchen Begriff gar nicht geben. Aber solange wir keinen haben, reden wir aneinander vorbei. Und das, während sich die Toten weiter summieren.
Mehr zu Nahost