Bücher über Faschismus

Die Hellsichtigkeit der Literatur

An einem Schaufenster steht auf einem Plakat: "Deutsche! Wehrt Euch! Kauft nicht bei Juden!", ein Aufruf zum Boykott jüdischer Geschäfte durch die Nationalsozialisten. Ein Judenstern ist auf das Schaufenster geschmiert, ein "Braunhemd" der SA (Sturmabteilung) steht als Wachposten daneben, Berlin, 1. April 1933
Lange vor der Machtübernahme 1933 haben Schriftstellerinnen und Schriftsteller die unheilvollen Entwicklungen in ihren Büchern gespiegelt © picture alliance / akg-images
Von Jan Drees · 14.03.2024
Es war zwar nicht vorhersehbar, dass es zu einer NS-Diktatur und zu einem Zweiten Weltkrieg kommen würde. Aber eine Vorausahnung des Kommenden zeichnete sich bereits in einigen Büchern der 1920er- und 1930er-Jahre ab, wie unsere Auswahl zeigt.
Am 5. November 1923, wenige Tage vor dem Hitler-Ludendorff-Putsch in München, kam es zu einem Pogrom im Berliner Scheunenviertel. Als am benachbarten Alexanderplatz nachmittags die Auszahlung von Geldern an Arbeitslose eingestellt wurde, stürmte ein aufgebrachter Mob in die überwiegend von Ostjuden bewohnten Straßen, plünderte und zerstörte Geschäfte, misshandelte Bewohner und skandierte: „Schlagt die Juden tot. Zieht die Juden aus!“
In jener Zeit verübten rechte Freikorps der „Schwarzen Reichswehr“ und andere nationalistische und monarchistische Geheimbünde rund 400 politische Morde – für lange Zeit unbemerkt von der breiteren gesellschaftlichen Öffentlichkeit. 1925 veröffentlichte Adolf Hitler den ersten Teil seiner Programmschrift „Mein Kampf“.
Die unheilvollen Entwicklungen von Nationalsozialismus und Antisemitismus, die im Zweiten Weltkrieg und der Shoah mündeten, haben hellsichtige Schriftstellerinnen und Schriftsteller bereits in den 1920er- und frühen 1930er-Jahren vorhergesehen – darunter Joseph Roth, Annette Kolb, Hermynia Zur Mühlen und der spätere Literatur-Nobelpreisträger Thomas Mann.
Es sind höchst unterschiedliche Bücher aus einer Zeit der großen Gereiztheit, der Straßenkämpfe, der bitteren Armut und des sich mehr und mehr verfestigenden antisemitischen Ressentiments. Wie fing alles an? Eine literarische Auswahl zum Verständnis der ersten Jahre des deutschen Faschismus.

Joseph Roth: „Das Spinnennetz“

Mit wuchtigem Pathos wird ins Innere des Täters Theodor Lohse geblickt. Der hat es im Ersten Weltkrieg zum Leutnant gebracht und sucht nun mühsam sein Auskommen in der jungen Weimarer Republik.
Die Gesellschaft, so sein Gefühl, ist ihm mehr schuldig als eine Diener-Existenz in einem jüdischen Haushalt. Theodors Kränkung schlägt um in Skrupellosigkeit und Hass auf Juden und Arrivierte.
Bald gerät er in rechtsnationale Kreise und wird nach einem – für ihn peinlichen – sexuellen Liebesdienst Mitglied einer geheimen Organisation. Gemeint ist hier wohl die Organisation Consul, eine Art terroristischer Vorläufer von SA und SS und verantwortlich etwa für die Ermordung des Außenministers Walther Rathenau.
Theodor beginnt als Spitzel im Arbeitermilieu. Später schießt er auf Streikende, verrät und ermordet selbst Gesinnungsgenossen, wenn es ihm nutzt. Die Ordnung, auch die neue, bedeutet ihm nicht viel, der eigene Aufstieg hingegen alles. (oj)

Joseph Roth: „Das Spinnennetz“
Verlag Kiepenheuer & Witsch
112 Seiten, 6 Euro


Annette Kolb: "Beschwerdebuch"

Annette Kolbs „Beschwerdebuch“ versammelt kleine Skizzen über das Leiden an der Radiomusik oder an den Anglizismen in der deutschen Sprache, Hundegeschichten und Betrachtungen zur quirligen Metropole Berlin. Ein launiges Potpourri, aber je weiter man liest, desto deutlicher wird ihr eigentliches Anliegen. Eingestreut zwischen diese Gesellschaftsskizzen finden sich deutliche Warnungen vor einer erneuten Katastrophe.
Es geht ihr wieder einmal ums Ganze. Der Frieden in Europa, die Verständigung mit Frankreich, die Meinungsfreiheit, alles steht durch den zunehmenden Extremismus im Land auf dem Spiel: „Es sind wieder die Töne von 1914, und es wird ihnen geglaubt, und unsere politischen Manieren sind die der Schulrangen, und alles ist so dumm.“
Dieses „Beschwerdebuch“ ist Annette Kolbs letzter vehementer publizistischer Einspruch gegen die zunehmende Infizierung der Weimarer Demokratie durch den nationalsozialistischen Ungeist. (ag)

Annette Kolb: „Beschwerdebuch“
Erstausgabe bei Rowohlt, 1932
nur noch antiquarisch erhältlich


Gertrud Kolmar: "Die jüdische Mutter"

Finster ist der 1931 beendete Roman „Die jüdische Mutter“ von Gertrud Kolmar – selbst Tochter eines jüdischen Rechtsanwalts. Das Klischee der herzlichen, fürsorglichen jüdischen Mutter wird durch eine kühl kalkulierende Frau ersetzt. Unbedingt ersehnt sie ein Kind. Nachdem der Ehemann früh verstirbt, wird die Mutter-Tochter-Verbindung geradezu symbiotisch.
Eines Tages wird das spielende Mädchen von einem Sexualverbrecher weggelockt und erst am nächsten Morgen, geschändet und bewusstlos, in einer verwahrlosten Laubensiedlung gefunden.
Überzeugt davon, dass die Tochter das Trauma der Vergewaltigung niemals verwinden kann, flößt die Mutter ihr im Krankenhaus unbemerkt ein tödliches Mittel ein. Dieses negativ gezeichnete Bild einer Jüdin war gerade im aufkommenden Faschismus problematisch, hätte weiteres Öl ins längst lodernde Feuer gegossen.
Erst 1965 erschien „Die jüdische Mutter“, 22 Jahre nachdem Gertrud Kolmar im KZ Auschwitz ermordet worden war. (sg)

Gertrud Kolmar: „Die jüdische Mutter“
herausgegeben von Regina Nörtemann und Thedel von Wallmoden
Wallstein, 300 Seiten, 38 Euro


Bruno Frank: "Politische Novelle"

Bruno Franks „Politische Novelle“ von 1928 stellt den deutschen Politiker Cramer vor, der den französischen Außenminister treffen und die mögliche Einheit Europas entwerfen will. Doch er verliert sich stattdessen in Marseille und fällt ebenda einem Raubmord zum Opfer.
Cramer wollte dieses Land verändern – wie sein Vorfahr Johann Heinrich von Cramer, der Preußen reformierte.
Doch der Mord macht diese Pläne hinterrücks zunichte. Marseille ist ein äußerst gefährliches Pflaster – der Auswurf der Gesellschaft bevölkert den Hafen, Symptom einer misslungenen Integration, während sich – als ein Gegenmodell – in Süditalien „die Völker Europas und Afrikas“ fruchtbar vermischten.
Der Mörder aber trägt ausgerechnet die Züge eines „Ariers“. „Er war ein Weißer, ein junger Mensch mit einem breiten hellen Gesicht, mit stumpfblauen Augen, stumpfblondem Haar unter … der Soldatenmütze. Aber er selbst war nur ein Splitter der furchtbaren Waffe, mit der Europa seinen Selbstmord beging.“ (jd)

Bruno Frank: „Politische Novelle“
Boer Verlag, 100 Seiten, 24 Euro


Hermynia Zur Mühlen: „Die weiße Pest“

„Verräter verfallen der Feme!“: Unter diesem Hetz-Slogan wurden in den ersten Jahren der Weimarer Republik rund 400 Morde verübt. Zum Verräter konnte in den Augen der rechten Freikorps der „Schwarzen Reichswehr“ und anderer nationalistischer und monarchistischer Geheimbünde praktisch jeder und jede werden.
Meist traf es die eigenen Gesinnungsgenossen: weil sie in Verdacht gerieten, insgeheim mit den Kommunisten oder den Sozialdemokraten zu kooperieren, weil sie offen die Seiten gewechselt hatten, oder einfach, weil sie zu viel wussten.
Oft wurden aber auch politische Gegner ausgeschaltet, Prominente wie Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg und viele, deren Namen niemand mehr kennt.
Hermynia Zur Mühlen thematisiert diese Morde in ihrem Aufsehen erregenden, als Sittengemälde zu lesenden Roman „Die weiße Pest“ von 1926 – mit einem Personal, das sich überwiegend aus irregeleiteten Kleinbürgern, heldenhaft-klugen Kommunisten und verderbten Vertretern der alten Eliten zusammensetzt. (js)

Hermynia Zur Mühlen: „Die weiße Pest“
Vereinigung Internationaler Verlagsanstalten
nur antiquarisch erhältlich


Thomas Mann: "Der Zauberberg"

1924, vor genau einem Jahrhundert, erschien „Der Zauberberg“. Sein Weltruhm machte den Schriftsteller in der Zeit des Nationalsozialismus zu einem der herausgehobenen Gegner Adolf Hitlers, zum Repräsentanten eines anderen, besseren Deutschlands.
Der Hamburger Patriziersohn Hans Castorp reist ins Davoser Lungensanatorium Berghof – eigentlich zu Besuch. Er bleibt für die Dauer von sieben Jahren und wird Teil einer illustren Bürgergesellschaft, die sich fernab aller Niederungen dekadent eingerichtet hat, darunter die philosophierenden und politisierenden Streithähne Ludovico Settembrini und Leo Naphta.
Es läuft hinaus auf den Konflikt zwischen der fortschrittsfreudigen demokratisch-liberalen Lebensform, die in der Tugendrhetorik Settembrinis allerdings eher karikiert wird, und der rechtsradikalen, linksradikalen oder religiösradikalen Umformung der Gesellschaft zu einem antikapitalistischen Gehorsamsstaat. (jd)

Thomas Mann: „Der Zauberberg“
Große kommentierte Frankfurter Ausgabe, Kommentar von Michael Neumann
S. Fischer Verlag, 2 Bde., 1.104 u. 525 Seiten
110 und 118 Euro

Taschenbuch-Ausgabe: S. Fischer Verlag, 1.120 Seiten, 20 Euro


Kurt Münzer: „Jude ans Kreuz!“

Der Kolportage- und Großstadtroman „Jude ans Kreuz!“ von Kurt Münzer aus dem Jahr 1928 stellt den armen Geigenvirtuosen Abel Adler vor. Nachtclubs und Kaschemmen kennt der jüdische Musiker ebenso wie Drogengenuss, spirituelle Sehnsucht, verzehrende Liebe und immer wieder die alles erhebende Musik:
„Wenn er Geige spielte, rieselte kein Bach, zog keine Wolke, fiel kein Stern: nur der Mensch sprach.“
Münzer erzählt von Abel, um eigene Thesen zu Judentum und Zionismus, Kunst und Klassenkampf im Roman unterzubringen, und verklärt den Schmerzensmann mit der Geige schließlich zum Edelsten seines Volkes, zu einem Märtyrer vom Range des gekreuzigten Jesus. Als Abel sich schützend vor eine jüdische Familie stellt, wird er Opfer des antisemitischen Mobs:
„Er war stumm, und als sie das Kreuz aufrichteten, war ihm schon, als flöge er aus Schmerz und Leid hinaus in die gereinigten Sphären. Der Jude hing am Kreuz. Er lächelte. Und dann starb er langsam den schweren Tod am Kreuz.“ (ch)

Kurt Münzer: „Jude ans Kreuz!“
Richard Löwit Verlag
nur antiquarisch erhältlich

Das Verlagsprojekt autonomie-und-chaos.de bietet das PDF zum kostenfreien Download an


Faschismusbilder in der Kinderliteratur vor 1933

In der Kinderliteratur der Weimarer Republik scheint der aufkommende Faschismus auf ganz unterschiedliche Art und Weise durch. Erich Kästners berühmter Großstadtroman „Emil und die Detektive“ lässt sich vor allem als soziale Utopie eines sozialen Miteinanders lesen. Doch dort tritt auch ein streng regierungstreuer, wenig flexibler Wachtmeister auf, von dem aus sich eine direkte Linie in die Zeit nach 1933 ziehen lässt. Auch die Massenszene am Schluss des Romans wirkt wie eine Vorausdeutung: Hier wird ein Mensch zur Strafe gejagt und eingekesselt.
Weimarer Republik

Wie die Kinderliteratur den Faschismus erahnte

16.03.2024
24:48 Minuten
Ein nachdenklicher Erich Kästner sitzt an seinem Schreibtisch, undatierte Aufnahme.
Ein nachdenklicher Erich Kästner sitzt an seinem Schreibtisch, undatierte Aufnahme.
„Ede und Unku“ der kommunistischen Autorin Alex Wedding beschreibt die soziale Realität der Weimarer Republik. In diesem Roman von 1931, der in der DDR als Schullektüre wiederaufgelegt wurde, erfährt der zwölfjährige Arbeiterjunge Ede, dessen Vater arbeitslos ist, strenge Hierarchien, soziale Ächtung und Stigmatisierung.

Ein rebellisches Mädchen und starke Frauen

Die zehnjährige Gertrude, die Hauptfigur in Tami Oelfkens Kinderroman „Nickelmann erlebt Berlin“, ist eine der wenigen Protagonistinnen der Kinderliteratur aus dieser Zeit. Die ziemlich rebellische Heldin wächst mit anderen starken Frauen auf. Ganz nebenbei thematisiert der Roman von 1931 den Antisemitismus, der im Schulalltag der Kinder bereits stark präsent ist. In „Nickelmann“ sitzen „Juden, Christen und Dissidenten“ schließlich nebeneinander unter dem Adventskranz – auch dies eine Utopie, die kaum zwei Jahre später auf grausame Weise überholt war.
Alle drei Kinderromane zeigen eine Gesellschaft, die vom Erbe des Kaiserreichs geprägt bleibt, von Werten und Verhaltensweisen, die zwar nicht bestimmend, aber dennoch anschlussfähig sind für die Ideologie und den Terror, die ab 1933 Einzug halten sollten. (akw)

Erich Kästner: „Emil und die Detektive“
Atrium Verlag, Zürich
176 Seiten, 14 Euro, ab 6 Jahren

Alex Wedding: „Ede und Unku“
Verlag Neues Leben, Berlin
128 Seiten, ab 12 Jahren
Nur noch antiquarisch erhältlich.

Tami Oelfken: „Nickelmann erlebt Berlin. Ein Großstadt-Roman für Kinder und deren Freunde“
Verlag Hentrich & Hentrich, Berlin, Leipzig
128 Seiten, 14,90 Euro, ab 10 Jahren

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