Fanfiction

Was wäre, wenn...?

Die Schauspielerin Emma Watson als Hermine Granger hält einen Zauberstab in der Hand.
Emma Watson als Hermine in "Harry Potter and the Deathly Hallows – Part 2". Liebesgeschichten zwischen Hermine Granger und Draco Malfoy zählen zu den erfolgreichsten Harry-Potter-Fanfictions. © imago / Cinema Publishers Collection
Von Harry Potter bis Goethe: Fanfiction gibt bekannten Geschichten neue Wendungen – romantisch, queer oder politisch. Wer schreibt sie? Was gilt urheberrechtlich? Und wie reagiert die Literaturwelt?
Was passiert, wenn Geschichten nicht enden, sondern von Fans einfach weitergeschrieben werden? Fanfiction ist längst mehr als ein Nischenhobby im Internet: Millionen von Lesern folgen Geschichten, die auf bekannten Büchern, Filmen, Serien oder Klassikern basieren. Vor allem Frauen prägen diese Szene, die immer professioneller wird.
Erste bekannte Fanfiction-Werke wie Manacled erscheinen bereits als kommerzielle Romane, und auch die Literaturwelt beginnt, Fanfiction ernst zu nehmen.

Was versteht man unter Fanfiction?

Bei Fanfiction handelt es sich um literarische Texte, die von Fans und Hobby-Autoren geschrieben werden. Sie greifen auf Figuren, Welten oder Handlungen aus bestehenden Medien – wie Büchern, Filmen oder Serien – zurück, um eigene, neue Geschichten zu erzählen.
Veröffentlicht werden die Texte meist auf Onlineplattformen. Fanfiktion.de (FF.de) ist die größte deutschsprachige Plattform für Fanfiction. International gilt aber Archive of Our Own (AO3) als die wichtigste Anlaufstelle, heißt es in einem Artikel der Medieninformatiker Thomas Schmidt, Jonathan Sasse und Christian Wolff. In AO3 finden sich auch zahlreiche Texte auf Deutsch, es sind 13 Millionen Werke archiviert und mehr als 7 Millionen Nutzer angemeldet.
Es gibt auch Foren, in denen sich Fans austauschen und Autoren Feedback erhalten. Leserinnen und Leser können dort mitbestimmen, wie eine Geschichte weitergeht oder welche Ideen aufgegriffen werden. So entsteht eine enge, kreative Gemeinschaft, fast wie eine kleine literarische Familie.
Das Um- und Weiterschreiben fremder Texte ist nicht neu. Schon lange vor dem Internet erschien Fanfiction in eigenen Printmagazinen.

Regeln für das Schreiben von Fanfiction

In der Fanfiction-Community gelten einige ungeschriebene Regeln. Zuallererst: Jeder darf Fanfiction schreiben, man muss keine professionelle Autorin sein. Allerdings darf man kein Geld damit verdienen. Die Community lebt außerdem von gegenseitiger Unterstützung. Negative Kommentare sind unerwünscht. Außerdem gilt: Texte mit sensiblen Inhalten wie Gewalt, Tod oder expliziten Szenen müssen klar gekennzeichnet werden.

Wer schreibt und wer liest Fanfiction?

Studien zeigen: Rund 75 Prozent der Fanfiction-Autoren sind Frauen, etwa 10 Prozent identifizieren sich als nonbinär - fühlen sich also weder dem weiblichen noch männlichen Geschlecht eindeutig zugehörig - und weitere 10 Prozent sind Männer. Fanfiction wird in der Regel unter Pseudonym veröffentlicht. Für viele ist das Schreiben ein wichtiges Hobby nebenbei, zum Beispiel nachts auf dem Handy, während das Baby gestillt wird.
Und es wird nicht nur viel veröffentlicht, sondern auch viel gelesen, vor allem von Frauen. Laut einer Studie von Forschenden der Universität Regensburg sind 92 Prozent der Nutzerinnen auf FanFiktion.de weiblich. Die erfolgreichsten Geschichten haben bis zu 16 Millionen Aufrufe. Autorinnen mit solchen Zahlen haben Kultstatus. Viele arbeiten mit Lektorinnen zusammen, gestalten eigene Buchcover, lassen ihre Geschichten vertonen oder in bis zu 25 Sprachen übersetzen. Fanfiction ist daher bereits zu einer eigenen Mini-Verlagswelt geworden.

Welche Themen in Fanfiction sind besonders beliebt? 

Fanfiction bedient vor allem populäre Themen wie Queerness, Romantik, Unterhaltung und Fantasy. Allein bei Harry Potter haben über die Hälfte der rund 400.000 Geschichten queere Inhalte.
Einer der bekanntesten Fanfiction-Romane weltweit ist „All the Young Dudes“ von der anonymen Autorin „MsKingBean89“. Hinter dem Pseudonym vermuten manche Fans sogar Popstar Taylor Swift. Aber das sind nur Spekulationen. Die Geschichte umfasst über 500.000 Wörter, 188 Kapitel und wurde auf TikTok mehr als 1,5 Milliarden Mal erwähnt. Erzählt wird die Vorgeschichte von Harry Potters Eltern – aus der Sicht von Remus Lupin, einem Werwolf und Freund von Harrys Vater. In der Geschichte verliebt er sich in seinen besten Freund Sirius Black.
Harry-Potter-Schöpferin Joanne K. Rowling hat sich in den vergangenen Jahren mehrfach queerfeindlich geäußert. Die Fan-Community reagiert darauf mit eigenen Deutungen: Sie nimmt das vertraute Universum in die Hand und entscheidet selbst, welche Geschichten erzählt werden – und welche Figuren queer sind.
Allein zu Harry Potter existieren auf der Plattform AO3 rund 500.000 Fanfiction-Texte – von Kurzgeschichten bis zu Romanen mit über tausend Seiten. Auch deutsche Plattformen spiegeln weitgehend internationale Trends wider: Auch hier gehören Harry Potter, Marvel und Supernatural zu den beliebtesten Stoffen. Auf FanFiktion.de zeigt sich außerdem eine starke Prägung durch Anime-Fandoms wie Naruto und One Piece, was auf deren historische Bedeutung für die deutsche Szene hinweist. Auf AO3 wiederum treten nationale Besonderheiten hervor, zum Beispiel viele Geschichten zu der Fernsehserie Tatort, zu Die drei ??? oder Fußballthemen.

Holocaust-Fanfictions

Doch die kreative Auseinandersetzung geht weit über Popkultur hinaus: Auch Klassiker – etwa von William Shakespeare, Franz Kafka oder Vladimir Nabokov – werden von Fans um- und weitergeschrieben. Selbst das Tagebuch der Anne Frank wurde zur Vorlage. Sogenannte Holocaust-Fanfictions erzielen dabei teils bis zu 200.000 Klicks pro Text.
Was vor zehn Jahren noch Empörung auslöste, wird heute zunehmend als Chance für die Erinnerungskultur verstanden. So sagt Jennifer Ehrhardt von der Arbeitsstelle Holocaust-Literatur der Justus-Liebig-Universität Gießen: „Auf diese Weise werden Storytelling-Plattformen auf mehreren Ebenen zu einer Art Graswurzelarchiv der Holocaust-Erinnerung.“ Solche Plattformen würden einerseits individuelle Schicksale und historische Fakten bewahren, andererseits zeigten sie, wie Holocaust-Erinnerung heute im digitalen Raum funktioniere - persönlich und transnational.

Fanfiction und Urheberrecht: Was ist erlaubt?

Fanfiction basiert häufig auf urheberrechtlich geschützten Figuren und Welten. Nach deutschem Recht kann sie legal sein, insbesondere, wenn sie nicht-kommerziell ist, als wertschätzender Pastiche (§51a UrhG) gilt, also eine kreative und respektvolle Weiterführung oder Hommage an das Original darstellt, und keine weiteren Schutzrechte wie Marken- oder Persönlichkeitsrechte verletzt. Die meisten Fanfictions erfüllen diese Voraussetzungen.

Manacled als kommerzieller Roman

Es gibt aber Ausnahmen: Die Geschichte Manacled – eine Liebesgeschichte zwischen Hermine Granger und Freundin von Harry Potter, und Draco Malfoy, seinem Rivalen – wurde über 15 Millionen Mal gelesen und soll im September als Buch erscheinen, also kommerzialisiert werden. Für die Veröffentlichung musste die Autorin SenLinYu alle Namen sowie das fiktionale Universum verändern, um rechtliche Konflikte mit der Autorin Joanne K. Rowling oder deren Verlag zu vermeiden.
In der Fanfiction-Community wird die Buchveröffentlichung von Manacled teils kritisch gesehen. Kommerzieller Erfolg widerspricht eigentlich der Regel, mit Fanfiction kein Geld zu verdienen. Viele gönnen der Autorin den Erfolg aber, da sie so lange unbezahlt geschrieben hat.

Wie wird Fanfiction in der Literaturwelt wahrgenommen?

Der Literaturwissenschaftler Gerhard Lauer sieht Fanfiction als Teil einer neuen literarischen Öffentlichkeit. Dabei werden Fans selbst zu Autoren und Plattformen wie Archive of Our Own (AO3) entwickeln sich zu wichtigen Orten der Literatur im Netz. Auch das Deutsche Literaturarchiv Marbach nimmt diese Entwicklung ernst und will in Zukunft ausgewählte Fanfiction-Texte zu deutschsprachigen Klassikern oder fiktive Storys über ihre Verfasser offline katalogisieren.
Fanfiction bietet außerdem Raum für neue Perspektiven, die in der offiziellen Literatur oft fehlen. Neben queeren Liebesgeschichten im Harry-Potter-Universum gibt es zum Beispiel auch Texte über eine romantische Beziehung zwischen Goethe und Schiller.

Queere Perspektiven in Fanfiction

Für die Literaturwissenschaftlerin Patricia Heise von der Goethe-Universität Frankfurt spielt der Wirklichkeitsbezug der Fanfiction nur eine Nebenrolle. „Ich glaube, für die Fanfictions ist das eigentlich gar nicht so relevant, ob die wirklich eine romantische Beziehung hatten“, sagt Heise. Vielmehr gehe es darum, sich vorzustellen: Was wäre, wenn eine große Figur unserer Kulturgeschichte queer gewesen wäre? „Und ich glaube, die Liebesgeschichte wird da eher genutzt, Queerness oder historische Queerness zu erinnern“, so Heise.
Ein Beispiel für den Versuch, Fanfiction stärker in die Literaturwelt zu holen, ist auch das neue Magazin Danke aus Basel. Eine der Herausgeberinnen, Marion Regenscheit, erklärt, man wolle Fanfiction „aus der Internetwelt herausholen“ und in gedruckter Form zeigen – mit Texten etwa über Kafka, Homer oder Heidi. Ziel sei es, Fanfiction als Genre in die etablierte Literaturwelt zu holen.

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