Gemeinsam singen
Weihnachtssingen im Stadion: Wie am Lagerfeuer sitzen und sich Geschichten vorsingen? © picture alliance / motivio
Sing, sing, sing ... Singen bringt die Menschen zusammen

Tierstimmen nachahmen, jauchzen, trauern, Götter anrufen: Die Menschheit singt wohl schon seit ihren Anfängen. Gesang kann dabei viele Rollen spielen – vor allem aber beschwört er Gemeinschaft.
Zehntausende Menschen haben sich landesweit wieder am 4. Advent in Fußballstadien getroffen, um gemeinsam Weihnachtslieder zu singen. Viele von ihnen begründen es mit: Besinnlichkeit und einem Zugehörigkeitsgefühl. In der Weihnachtszeit hat dies mittlerweile schon Tradition.
Aber Mitsingkonzerte haben sich in den vergangenen 20 Jahren auch abseits der Weihnachtszeit überall im Land verbreitet. Es gibt sie in großen Hallen, in Bars oder kleinen Clubs. Gesungen werden Schlager, Rock, Pop oder klassische Werke. Das Prinzip: Jeder soll mitsingen dürfen, es geht nicht um „Können“, Fehler sind zugelassen. Ohne Unbehagen, ohne Angst vor „falschen Tönen“ lauthals singen zu können, scheint für viele dabei besonders wichtig zu sein. Denn es wirkt befreiend. Auch auf vielleicht sonst unterdrückte Emotionen. Dabei können sogar Tränen fließen.
Und: Die Sängerinnen und Sänger lernen sich rasch kennen, es wird gemeinsam gelacht, das gemeinsame Singen hebt das „Fremdeln“ auf. Der Effekt: „Es fühlt sich gemeinschaftlich an“, sagen viele.
Der Musikwissenschaftler Gunter Kreutz nennt es den „Eisbrechereffekt“: Menschen, die gemeinsam singen, fühlen sich vertraut, gehen offener miteinander um. Dieses sich ohne Verteidigungshaltung beim Singen begegnen – das täte unserer Gesellschaft sehr gut. Singen vermittle und überschreite Barrieren zwischen Geschlechtern und Altersgruppen.
Woher kommt diese gemeinschaftsstiftende Kraft des Singens? Dazu gibt es keine einheitliche Antwort: Es berührt eine metaphysische Ebene. Es liegt in der Energie, die dabei entsteht. Es fühlt sich an, wie am Lagerfeuer sitzen und Geschichten erzählen.
Damit ein Chor wirklich gut klingt, brauche es – neben dem Üben, dem Praktizieren – immer auch ein nicht genau zu bestimmendes, inneres Miteinander, sagt Friederike Stahmer, Professorin für Kinder und Jugendchorleitung an der Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover. Das lasse sich trainieren, beispielsweise indem an der Homogenität der Stimmen untereinander gearbeitet wird, an der Angleichung der Vokale, an der rhythmischen Präzision.
Doch darüber hinaus gebe es wahrscheinlich auch eine metaphysische Ebene: Die Stimmung unter den Sängern und Sängerinnen muss stimmen. Sie müssen gemeinsam miteinander klingen wollen – und das auch wirklich gemeinschaftlich erleben.
Singende Schicksalsgemeinschaften
Dieser Effekt ist schon früh bekannt. Im Mittelalter beispielsweise strukturieren mönchische Gesänge in der Abfolge der Stunden den Tag. Religiöse Rituale werden durch Musikalität verstetigt. Vor allem aber führt das regelmäßige und gemeinsame Singen dabei dazu, dass die Menschen sich als Gemeinschaft fühlen, betont die Musikwissenschaftlerin Veronika Petzold, Geschäftsführerin des Deutschen Chorverbands.
Viel später dann, im frühen 19. Jahrhundert, treten neue Formen von gemeinschaftsstiftendem Gesang auf, bürgerlich und weltlich: Sängerfeste und (Männer-)Gesangsvereine. Bei Sängerfesten suchen Menschen begeistert die Möglichkeit, ihrem Alltag für einige Tage zu entkommen. Große Geselligkeit ist auch hier ein entscheidender Faktor. In der damaligen Zeit stellen die Sängerfeste bedeutende Großereignisse dar, an die sich ein ganzer Ort erinnert.
Bald wird daraus auch ein Singen für die Nation. So entstehen nach den Befreiungskriegen gegen Napoleon in Deutschland neue, patriotische Lieder. Wie beispielsweise „Lützows Wilde Jagd", eines der berühmtesten deutschen Freiheitslieder. Es spielt auf das Lützowsche Freikorps an, das 1813 gegen Napoleons Truppen kämpfte – gegen die Fremdherrschaft und auch gegen die Restauration des deutschen Adels. Die Farben ihrer Uniformen: schwarz, rot, gold.
Die „Wilde Jagd“ wird noch im Ersten Weltkrieg gesungen. „Kriegszeit ist Sangeszeit geworden. Singend zog die Blüte Deutschlands in den Kampf“, heißt es in einem deutschen Liederbuch von 1916. Die Nationalsozialisten setzten die suggestive Kraft des Singens dann gezielt ein – mit nationalistischen Gesängen und Massenaufmärschen, mit Fackelzügen und Fahnenschwingern.
Doch auch Widerstandsbewegungen finden sich in singender Gemeinschaft zusammen. In Männergesangvereinen des 19. Jahrhunderts wird das Singen auch zu einem Instrument der politischen Meinungsäußerung und formt demokratische Prozesse. Auch die deutsche Arbeiterbewegung findet ihre Identität und ihren Zusammenhalt in Liedern, die sich kämpferisch geben.
Eine spätere Weiterentwicklung des widerständigen Singens ist die "singende Revolution" im Baltikum, bei dem sich die Menschen in die "Freiheit gesungen haben", wie es dort heißt.
Jeder kann singen
Die Stimme und das Hören begleiten uns Menschen schon lange vor der Geburt. Denn das erste Sinnesorgan, das der Mensch ausbildet in der 25. Woche der Schwangerschaft, ist das Ohr. Und das Erste, was der Mensch in seinem Leben hört, ist meistens die Stimme der Mutter. Und was macht das Neugeborene sogleich? Es erhebt die Stimme. Es schreit. Wirklich? Vielleicht singt es auch.
Im Grunde ist das Auslegungssache, sagt Friederike Stahmer. Sie meint: Jeder Mensch singt, sobald er anfängt, sich lautlich zu äußern – auch wenn das erst einmal nichts mit Kunstmusik zu tun hat.
Vogelrufe nachahmen, Götter besänftigen: Wie das Singen beginnt
Der Evolutionsbiologe Charles Darwin hat beobachtet, dass bei den Vögeln die guten Sänger gegenüber nicht so guten erhebliche Vorteile bei der Partnerwahl haben. Und er schloss daraus, dass ihr Gesang auf die Werberufe der Vögel während der Paarungszeit zurückgeht. Hat auch der Mensch so begonnen zu singen?
Neue Studien von Anthropologen weisen darauf hin, dass sich der Mensch nicht am Affen orientiert mit der Ausbildung der Stimme – sondern an den Vögeln, sagt der Literaturwissenschaftler Helmut Böttiger. Vögel verfügen über eine sehr differenzierte Grammatik der Sprache mit einer sehr breit gefächerten Artikulation. Selbst eine einfache Kohlmeise hat eine verblüffende Vielfalt an Artikulationsmöglichkeiten. An dieser habe sich die beginnende Stimme des Menschen ausgerichtet, sie also sei die eigentliche Vorlage für die menschliche Stimmbildung.

Vielfalt der Töne: Haben wir Menschen das Singen von Vögeln gelernt?© picture alliance / imageBROKER / Hermann Brehm
Alles beginnt also mit dem Gesang der Vögel. Doch warum hat der Mensch begonnen zu singen? Hier immerhin ist sich die Wissenschaft weitgehend einig: aus religiösen Gründen. Beispielsweise in Riten, bei Jagd- oder Opferritualen. Die ersten Lieder bilden sich zur Anrufung der Götter aus, so Böttiger.
Und: Seitdem der Mensch eine Stimme hat, wird er sie genutzt haben, um sich künstlerisch auszudrücken, fügt der Ethnologe Lars-Christian Koch hinzu, Direktor der ethnologischen Sammlungen der Staatlichen Museen zu Berlin im Humboldt Forum. Denn schon in frühster Zeit hätten Menschen gewusst, dass Klang eine tiefe Auswirkung hat: auf die Gemeinschaft, auf das Zusammenleben.
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