Spaniens Literatur und die Finanzkrise 2008

Die Rückkehr des Politischen

30:44 Minuten
Rafael Chirbes steht auf einem Balkon mit Blick über Barcelona und blickt ernst in die Kamera.
Der 2015 gestorbene, spanische Schriftsteller Rafael Chirbes. Sein Werk wurde im Zuge der Krise wiederentdeckt. © picture alliance / dpa / Andreu Dalmau
Von Victoria Eglau · 14.10.2022
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Die Finanzkrise von 2008 wirkte sich auf Spanien besonders dramatisch aus. Wie spiegeln sich diese einschneidenden Erlebnisse in der Literatur des Landes, das in der nächsten Woche Ehrengast der Frankfurter Buchmesse sein wird?
Die 1990er-Jahre und der Beginn des neuen Jahrtausends erlebte viele in Spanien als Jahre des Fortschritts, der Zuversicht und des Wohlstands.
Schwindelerregend, wie in einem Zeitraffer, schildert der 48-jährige Schriftsteller Isaac Rosa die goldenen Zeiten Spaniens mit ihrem entfesselten Konsum in seinem im August 2022 auf Deutsch erschienenem Roman „Das dunkle Zimmer“.

Der Schock nach den sorglosen Jahren

In diesem Zimmer trifft sich eine Gruppe junger Leute regelmäßig zu anonymem Gruppensex. Außerhalb des privaten Darkrooms erfreuen sie sich an ihrem stetig steigenden Kontostand, an Reisen und anderen Freizeitvergnügungen.
Mit ihrer Frivolität und Fröhlichkeit steht die Clique stellvertretend für eine ganze Generation unbeschwert konsumierender Spanier. Doch als das Land 2008 im Zuge der internationalen Finanzkrise in eine schwere wirtschaftliche und soziale Notlage gerät, als den Protagonisten der Verlust von Job und Wohnung droht, da wird das dunkle Zimmer zu einem Zufluchtsort.

Die Dunkelheit verdichtete sich wie etwas, das uns einhüllte. Der Raum wirkte widerstandsfähig, sicher vor dem Zusammenbruch, der sich überall abzeichnete, der drohend über uns hing und von dem wir noch mit größerer Begeisterung als Furcht sprachen, eine Zukunft, an deren Schreckensbildern wir uns weideten, wir sprachen ja nicht von uns, nicht uns würde das alles widerfahren, andere wären die Entlassenen, die Zwangsgeräumten, die ins Elend Geworfenen, die Opfer einer Verarmung, die das Altwerden noch unerträglicher gestalten würde.

aus Isaac Rosa: „Das dunkle Zimmer“

Zerplatzte Illusionen

„In Spanien hatten wir in einer wirtschaftlichen Selbsttäuschung gelebt“, erzählt Isaac Rosa. Doch jetzt sei eine ganze Gesellschaft enttäuscht und ernüchtert. „Wir dachten, es würde immer weiter aufwärts gehen. Als die globale Finanzkrise kam und als viele Menschen in Bedrängnis gerieten, zerbrach diese Täuschung.“
Die dramatische Krise von 2008 erschütterte die Gesellschaft tief. Entlassungen, sinkende Löhne und prekäre Arbeitsverhältnisse führten dazu, dass immer mehr Spanier durch Zwangsräumung ihr Dach über dem Kopf verloren oder ihre Wohnung weit unter Wert verkaufen mussten.

Schreiben als Akt des Widerstands

„Ich lebe im Süden Spaniens, in einem Ort namens Sanlúcar de Barrameda. Während der Krise stieg die Erwerbslosigkeit hier auf 56 Prozent“, sagt der Schriftsteller und Gymnasiallehrer Pablo Gutiérrez. An der Schule, an der er arbeitet, wurde er Zeuge, wie viele Familien in den Ruin stürzten.
Pablo Gutiérrez hat im renommierten spanischen Verlag "Seix Barral" eine eindrucksvolle Krisen-Trilogie veröffentlicht – auf Deutsch liegt sie nicht vor. Ihr erster Band “Democracia” erschien 2012. In dem Roman erzählt Gutiérrez die Geschichte des Zeichners Marco, der just am Tag der Insolvens der Lehman Brothersim September 2008 von seiner Immobilienfirma in einer spanischen Großstadt auf die Straße gesetzt wird.
Das Schreiben sei für ihn ein Akt des Widerstands gewesen, sagt Gutiérrez: „Es gab für mich keine Alternative dazu, über die Krise zu schreiben. Es nicht zu tun, hätte bedeutet, wegzuschauen. Das zu thematisieren, was meiner Generation ab 2008 geschah, war für mich als Schriftsteller unausweichlich.“

Protest gegen die Krise

Am 15. Mai 2011 protestierten in zahlreichen spanischen Städten Menschen gegen die wirtschaftlichen und sozialen Missstände infolge der Krise.  Die Bewegung der Indignados, der Empörten, die daraus entsteht, prangert unter anderem niedrige Löhne, unbezahlbare Wohnungen und fehlende Zukunftsperspektiven für die junge Generation an. Der "15-M", die spanische Abkürzung für “15. Mai”, markiert das Ende des Passivität und den Beginn des Aufbegehrens gegen die Krise.

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Ich interpretiere den 15-M als politisches Ereignis, durch das sich unsere Gesellschaft als Ganzes repolitisiert hat. Und diese Politisierung schlug sich auch in der spanischen Literatur nieder“, sagt der Literaturwissenschaftler David Becerra von der Universidad Autónoma de Madrid.
Die bis dahin in Spanien vorherrschende Literatur habe den politischen Konflikt abgelehnt. Konflikte seien eher als moralische oder intime Konflikte von Individuen dargestellt worden, aber nicht durch die politischen, sozialen oder historischen Umstände erklärt. Das habe sich nach dem 15. Mai 2022 geändert.

Ein Autor wird wiederentdeckt

Der 2015 verstorbene gesellschaftskritische Autor Rafael Chirbes war einer der bedeutendsten spanischen Schriftsteller der vergangenen Jahrzehnte. Sein düster-virtuoses Werk “Am Ufer”, das 2014 auf Deutsch erschien, haben nicht wenige Kritiker als “den Roman zur Krise” bezeichnet.
„In Spanien sagen wir im Scherz, dass eines der positiven Dinge, die die Krise mit sich brachte, war, dass Rafael Chirbes nun gelesen wird“, sagt David Becerra. Zuvor sei Chirbes zwar ein anerkannter und preisgekrönter Schriftsteller gewesen, habe aber nur wenige Leser gehabt.

Armut schadet Körper und Seele

Durch die Rückkehr des Politischen in der spanischen Gesellschaft und Literatur verschafften sich auch neue literarische Stimmen Gehör, die zu erklären versuchten, was geschehe.
Eine davon ist die 44-jährige Schriftstellerin Elvira Navarro. 2014 veröffentlichte sie “La Trabajadora” – “Die Arbeiterin”. Ihr nicht ins Deutsche übersetzter Roman handelt von der Freiberuflerin Elisa, die für einen Verlag Manuskripte korrigiert. Die Tage am PC in ihrer bescheidenen Wohnung am Stadtrand von Madrid ziehen sich endlos in die Länge, der Verlag überweist monatelang keine Honorare. Elisa leidet unter der Isolation und Existenzängsten. Angesichts ihrer finanziellen Nöte vermietet sie schließlich ein Zimmer unter.
„Ich wollte in meinem Roman unter anderem zeigen, dass prekäre Arbeits- und Lebensverhältnisse auch den Körper und die Seele in Mitleidenschaft ziehen“, sagt Elvira Navarro. „Wenn ich mich umschaue, sehe ich, dass die Lebensqualität in Spanien nicht mehr so ist wie früher. Viele Leute leben prekär. Menschen aus der Mittelklasse rutschen in die untere Mittelschicht ab. All das verursacht körperliche und seelische Krankheiten.“

Eine Generation am Rande des Abgrunds

„Ich beneide meine Eltern um ihr Leben in meinem Alter.“ Mit diesem provozierenden Satz beginnt “Mitten im Sommer”, der Anfang Oktober 2022 auf Deutsch erschienene Debütroman der spanischen Autorin und Journalistin Ana Iris Simón.
In Spanien erschien der Roman zwei Jahre zuvor und wurde zum Bestseller mit einem Dutzend Auflagen, ein literarisches Phänomen. Die 31-jährige Ana Iris Simón verlor mehrfach im Rahmen von Kündigungswellen ihren Job und konnte sich in Madrid auch als Berufstätige immer nur ein WG-Zimmer leisten.
In ihrem autobiografischen Roman fasst sie in Worte, was wohl viele aus ihrer gut ausgebildeten, aber krisengeschüttelten Generation denken. Sie fragt sich: "Ist das heute das Arkadien, von dem wir geträumt hatten? Tatsächlich glaube ich, dass wir uns wahrscheinlich am Rande eines Abgrunds befinden. Schauen wir uns das prekäre Leben der Jugend an, meine Generation hat 50 Prozent niedrigere Gehälter als meine Eltern in unserem Alter! Und 2021 war in Spanien das Jahr mit der höchsten Selbstmordrate in unserer Geschichte! Ich glaube, deshalb ist mein Buch umstritten: Weil es einige Paradigmen des Fortschritts infrage stellt – und damit auch das kapitalistische System.
Ana Iris Simón prangert nicht nur das gesunkene Wohlstandsniveau an, sondern postuliert auch, dass der Kapitalismus die Werte und Prioritäten der Gesellschaft verändere.

Die Krise im kollektiven Gedächtnis

Die Clique in Isaac Rosas Roman „Das dunkle Zimmer“ kämpft erbittert gegen den sozialen Abstieg an. Aber zugleich wächst ihr politisches Bewusstsein. So ist „Das dunkle Zimmer“ auch ein Roman über die Auflehnung gegen die Krise, über die Empörung, die sich seit 2011 auf den Straßen Spaniens entlud.
Als Isaac Rosa seinen Roman über Krise, Verlust und Widerstand, der in Spanien 2015 erschien, vollendete, war auch die Protestbewegung der Empörten an ihr Ende gekommen: 2014 ging daraus die ultralinke spanische Partei Podemos hervor, die heute in der Regierung sitzt.
Doch die Folgen der Krise von 2008 – wie eine gewachsene Einkommensungleichheit und fehlender erschwinglicher Wohnraum – sind bis heute zu spüren. Und auch die aktuelle Literatur trägt dazu bei, dass Krise und Aufbegehren im kollektiven spanischen Gedächtnis präsent bleiben.
(DW)

Mitwirkende: Anika Mauer, Tonio Arango und Ursina Lardi
Regie: Stefanie Lazai
Ton: Thomas Monnerjahn
Redaktion: Dorothea Westphal

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