Zum Tod von Javier Marías

"Ein Autor mit grandioser Sprachkraft"

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Javier Marías steht vor einem Bücherregal in seinem Zuhause.
Anspruchsvoll und bodenständig: Javier Marías an seiner Schreibmaschine zuhause. © imago-images / El Mundo / Antonio Heredia
Paul Ingendaay im Gespräch mit Gabi Wuttke · 11.09.2022
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Der spanische Autor Javier Marías hatte seinen größten Erfolg mit dem Roman "Mein Herz so weiß". Nun ist er mit 70 Jahren gestorben. Marías sei sowohl ein Nostalgiker als auch ein hochmoderner Schriftsteller gewesen, sagt Journalist Paul Ingendaay.
Es passiert nicht oft, dass sich ein Fußballverein von einem Fan verabschiedet, erst recht nicht von einem Literaten. Doch Javier Marías war ein leidenschaftlicher Fan von Real Madrid. Nun ist der Autor mit 70 Jahren an den Folgen einer Lungenentzündung gestorben - und der Verein ehrte ihn als "einen der größten Schriftsteller der spanischen und universellen Literatur" und als "großen Madridista".
Weltweit hat Marías mehr als neun Millionen Bücher verkauft, seine Werke wurden in 46 Sprachen übersetzt. Vor allem in Deutschland waren seine Bücher beliebt. Dabei galt der unbequeme Denker lange als schwer verkäuflich.

Kulturjournalist Tobias Wenzel besuchte Javier Marías in seiner verrauchten Madrider Wohnung nach Vollendung von dessen Roman-Trilogie "Dein Gesicht morgen". Darin geht der Autor der Frage nach, ob sich voraussagen lässt, wie sich Menschen in Zukunft verhalten werden angesichts sich permanent verändernder Zeiten und Umstände.

Riesenlob von Literaturkritiker Reich-Ranicki

Zum kommerziellen Erfolg von Marías' erfolgreichstem Roman "Mein Herz so weiß" in Deutschland habe Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki sehr beigetragen, als er das Buch 1996 als wichtigstes Werk der zeitgenössischen europäischen Literatur bezeichnet habe, sagt der ehemalige FAZ-Kulturkorrespondent für Spanien, Paul Ingendaay, der sich sehr freut, dass "ein solch intellektuelles Schreiben so einen populären Erfolg hatte".

"Marías schrieb immer noch auf der Schreibmaschine und hing an den alten Dingen. Er war ein Nostalgiker, aber auch ein hochmoderner Autor mit einer grandiosen Sprachkraft, wie sie einzigartig in Spanien war."

Literaturkritiker Paul Ingendaay

Der junge Javier wuchs in einer sehr intellektuellen und künstlerisch tätigen Familie auf und hatte mit 15 Jahren seinen ersten Roman geschrieben. "Er war ein 'Wortwesen', das existiert hat in Worten und durch Worte. Das zeigt auch sein gigantischer Output mit über tausend Kolumnen, Essays, Porträts und Erzählungen", so Ingendaay.

Ein undogmatischer linker Intellektueller

Marías sei ein engagierter und klassischer, aber undogmatischer linker Intellektueller gewesen, der sich nie parteipolitisch vereinnahmen habe lassen. "Er hat die Linke kritisiert für alle Dummheiten, die sie begangen hat. Und er hat den Franquismus und die Partei PP gehasst und alle Ministerpräsidenten, die aus der konservativen Partei hervorgingen."
Durch seine Literarizität und Intellektualität habe Marías eine hohe Achtung erfahren, sagt Ingendaay. Er habe einen ganz eigenen Stil und Sound geprägt, den er selbst "literarisches Denken" genannt habe.
"Er hat unglaublich konstruierte Satzperioden geschaffen, die man auch laut lesen kann. Während er schreibt und erzählt, reflektiert und philosophiert er über Möglichkeitswelten. Das Innenleben der Figuren ist immer wichtiger als das Äußere."

Der besondere Marías-Sound

Dieser besondere Marías-Sound, das "literarische Denken", setze sich zusammen aus sehr langen Sätzen, die bis zu 20 Zeilen lang ausfallen konnten, sagt seine langjährige Lektorin und Übersetzerin Michi Strausfeld .
"Darin war ihm die Musikalität immer ganz wichtig. Über dieses mäandernde Schreiben wurde er sich klar, was er ausdrücken wollte. Er hat sich sozusagen keinen Plan gemacht, sondern ist eher einer Kompassnadel gefolgt, die ihm zwar die Richtung zeigte, aber nicht, wie er hinkommt."
Das Schreiben sei bei ihm ein Forschungsinstrument gewesen, um Erkundigungen über das Verhalten seiner Figuren anzustellen, denen überraschende Dinge widerfahren, mit denen sie nie gerechnet hätten, sagt Strausfeld. "Das ist ein Erkunden feinster Gefühlsregungen und Verästelungen des Denkens. Man kann diese Art des Schreibens den Proust des Jahrhundertendes nennen."

Erfolgreich mit sehr anspruchsvollen Texten

Sie habe selbst keine eindeutige Erklärung für den Erfolg von Marías' Büchern, sagt Strausfeld. Er habe es geschafft, sehr anspruchsvolle Texte zu schreiben und seine Bücher dennoch millionenfach zu verkaufen, auch wenn das Lesen seiner Werke mitunter Mühe erfordere.

"Es ist wohl dieser Sound, diese kunstvolle, an kulturellen Anspielungen reiche Art von Prosa, die den Leser trägt und mitnimmt und man kann so schwer unterbrechen. Man steckt in dem Buch drin und dann mag man nicht mehr aufhören, zu lesen."

Übersetzerin Michi Strausfeld

Trotz seiner Intellektualität habe sich Marías nie vom Alltagsgeschehen abgewandt, sondern sich als regelmäßiger Kolumnist der Tageszeitung "El País" stets politisch geäußert und positioniert. Auch das "Spektakel um die Literatur" habe er abgelehnt.
"Er wollte auf Distanz gehen, ein ganz freier Mensch sein, niemandem zu Dank verpflichtet, nur seinen Lesern, die seine Bücher kaufen. Was er wollte, ist, gelesen werden und über Bücher diskutieren."
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