Judith Butler: Wer hat Angst vor Gender?
© Buchcover Judith Butler: "Wer hat Angst vor Gender?"
Keine Angst vor Komplexität
06:16 Minuten

Judith Butler
Übersetzt von Katrin Harlaß, Anne Emmert
Wer hat Angst vor Gender?Suhrkamp, Berlin 2025405 Seiten
24,00 Euro
Konservative Kampagnen schüren Angst vor Vielfalt, um alte Ordnungen zu bewahren. Doch Geschlecht ist kein Naturgesetz, sondern ein dynamisches Zusammenspiel von Körper, Kultur und Macht. Die wahre Bedrohung ist nicht Gender, sondern die Angst davor.
2017 wurde Judith Butler am Flughafen von São Paulo von einem Angreifer beschimpft und zusammengeschlagen. Daraufhin beschloss die Geschlechterforscherin, ihr neues Buch der Anti-Gender-Bewegung zu widmen.
„Wer hat Angst vor Gender?“ untersucht, wie die Debatte um geschlechtliche Identitäten zur Projektionsfläche für Abwehr, Hass und Schuldzuweisungen werden konnte. In zehn Kapiteln zeigt die Autorin, dass politisch orchestrierte Kampagnen dahinterstehen, getragen von einer weltweiten Allianz aus religiösen, politischen und medialen Akteuren.
Konservative Fronten gegen Gender
Ganz vorn steht der Vatikan. Seit den 1990er-Jahren warnt er vor der sogenannten "Gender-Ideologie" als Gefahr für Familie, göttliche Ordnung und Menschheit. Papst Franziskus verglich Gendertheorien sogar mit Atomwaffen und Genmanipulation und behauptete, sie zerstörten das Ebenbild Gottes.
Evangelikale Gruppen, besonders in den USA, Lateinamerika und Osteuropa, greifen diese Argumente auf und radikalisieren sie. Sie stilisieren Gender zu einer Bedrohung, die Kinder zu Homosexualität und Pädophilie verführt.
Dazu kommen "TERFs" – transausschließende Radikalfeministinnen –, die Transfrauen aus Frauenräumen ausschließen wollen. Sie schüren Ängste, indem sie Einzelfälle verallgemeinern und politisch instrumentalisieren.
Geschlecht als dynamischer Prozess
Warum verfängt das? Weil es von realen Bedrohungen ablenkt. Das zeigt sich vor allem an rechtspopulistischen Regierungen wie in Ungarn und Italien: Sie beschwören angebliche nationale Werte und eine naturgegebene patriarchale Ordnung, adressieren dabei aber tiefere Ängste vor sozialem Wandel und Kontrollverlust.
All dem setzt Judith Butler ihr Verständnis von Geschlecht als dynamischem Prozess entgegen: Körper und Gesellschaft prägen einander. Der Körper ist keine unveränderliche Größe, sondern wird durch Umwelt, Ernährung und Arbeit, aber auch unseren Blick auf ihn geformt. Die Geschlechterforscherin hält die alte Trennung von „Sex“ und „Gender“ – körperliches und soziales Geschlecht – für unzureichend. Beide Dimensionen sind verflochten und gesellschaftlich interpretiert.
Vorstellungen von Gender sind nicht universell
In ihrem Buch verknüpft die Autorin Studien, historische Entwicklungen und Stimmen aus dem globalen Süden. Sie zitiert etwa die Afrikanistin und Genderforscherin Oyèrónké Oyěwùmí, die in ihrer Arbeit zeigt, wie der Kolonialismus die binäre Geschlechterordnung anderen Kulturen aufzwang. Sie macht klar: Westliche Vorstellungen von Gender und Sexualität sind keineswegs universell.
Auf sympathische Weise ruft Judith Butler zu einer geduldigen und redlichen Forschung und Intellektualität auf – und warnt vor der Verlockung einfacher Antworten. Nicht jedes Kapitel in ihrem Buch liest sich leicht, nicht jede Seite glänzt mit sprachlicher Unkompliziertheit.
Doch in diesen politisch aufgeheizten Zeiten macht die Verbindung aus gründlicher Recherche, globaler Perspektive und ethisch-politischer Vision ihr Buch bedeutsam, lädt es doch dazu ein, breite Bündnisse einzugehen, Unterschiedlichkeiten auszuhalten und sich den realen Herausforderungen zu stellen: Klimawandel, Demokratieverlust, sozialer Gerechtigkeit.