Judith Butler: "Das Unbehagen der Geschlechter"
Suhrkamp, Frankfurt a.M. 1991
236 Seiten, 14 Euro
Tatjana Schönwälder-Kuntze: "Judith Butlers Philosophie des Politischen: Kritische Lektüren"
Transcript, Bielefeld 2018
332 Seiten, 29,99 Euro
Paula-Irene Villa & Sabine Hark: "Unterscheiden und Herrschen. Ein Essay zu den ambivalenten Verflechtungen von Rassismus, Sexismus und Feminismus in der Gegenwart"
Transcript, Bielefeld 2017
176 Seiten. 19,99 Euro
Explosiver Klassiker der Geschlechterforschung
38:44 Minuten
Vor 30 Jahren erschien in den USA "Gender Trouble" von Judith Butler – ein Buch, das die Geschlechterforschung bis heute prägt und sogar Widerhall am Stammtisch findet. Wie lässt sich die Wucht dieses Buches erklären?
Eigentlich könnte es ein Kompliment sein: Kaum ein anderer Begriff aus der akademischen Forschung hat so viel Aufmerksamkeit auf sich gezogen wie "Gender". Nicht nur in den Parlamenten taucht er auf, sondern auch an Stammtischen, in Bierzelten und natürlich im Internet. Allerdings wird auch kaum ein anderes Wort in so verächtlicher Weise gebraucht: Von "Gender-Gaga" oder "Gender-Wahnsinn" ist die Rede, und das nicht nur am rechten Rand.
Störung der vermeintlich natürlichen Ordnung
Wie lässt sich diese heftige Ablehnung von "Gender" und "Gender Studies" erklären? Paula-Irene Villa, Soziologin an der LMU München, hat viel zu dieser Frage geforscht. Eine Erklärung sieht sie darin, dass der Gender-Begriff in eine weitverbreitete populistische Logik passe, die eine vermeintliche "Normalbevölkerung" einer angeblich abgehobenen, weltfremden Elite gegenüberstellt. Der Gender-Begriff werde dabei "diffamiert als eine intellektuelle, akademische, überalimentierte Spinnerei", total abgelöst von den Problemen echter Menschen".
Dabei werde so getan, "als bringe das Reden und das Denken in Gender-Kategorien eine Art künstliche Komplexität in eine ansonsten von Natur aus schon moralisch richtige Welt hinein. Und wer mit Gender operiert, tut dieser gegebenen Ordnung Gewalt an."
Dass diese vermeintlich natürliche Ordnung weder so natürlich noch so ordentlich ist wie behauptet, hat die US-amerikanische Philosophin Judith Butler prominent herausgearbeitet: Ihr Buch "Gender Trouble" ist inzwischen ein Klassiker der Gender-Forschung. Vor genau 30 Jahren erschien es in den USA, nur ein Jahr später auf Deutsch unter dem Titel "Das Unbehagen der Geschlechter".
Darin setzt sich Butler mit Simone de Beauvoirs Werk "Das andere Geschlecht" auseinander, vor allem mit einer berühmten These: "Man kommt nicht als Frau zur Welt, man wird es."
Was es bedeutet, "Mann" oder "Frau" zu sein, sei nicht durch unseren Körper vorbestimmt ("sex"), sondern unterliege gesellschaftlichen Vorstellungen und Normen, die wir erst erlernen, erläutert Tatjana Schönwälder, Philosophin an der LMU:
"Welche Bedeutung der Körper kriegt und wie Menschen sich dann fühlen, wenn sie diesen Körper haben und wie sie sich benehmen – das ist das Gender, das soziale Geschlecht."
Ein "eigentliches" Geschlecht gibt es nicht
Butler denkt diese Überlegungen weiter und "radikalisiert" sie, so Villa Braslavsky, indem sie darauf hinweist, dass auch das Körperliche nicht einfach gegeben sei, sondern durch Normen und Sprache mithervorgebracht werde.
Es gibt also kein "eigentliches" Geschlecht, das dann sozial und kulturell überformt wird. Vielmehr sei unsere Wahrnehmung von Körper immer schon durchdrungen von Kultur, Sprache, Gesellschaft. Schon an das noch ungeborene Kind würden eine "ganze Palette an Gegenständen, Erwartungen und Phantasien" herangetragen, "wie Jungs und Mädchen zu sein haben".
Schönwälder weist hier auf ein verbreitetes Missverständnis hin: Butler vertrete keineswegs "die Vorstellung, dass ich mich morgens hinstelle und entscheide, ob ich jetzt dieses oder jenes Gender bin, oder diesen oder jenen Körper habe, das ist wirklich Mumpitz. Sondern das sind lange, kulturell sedimentierte Prozesse – das hat nichts damit zu tun, dass es ein willentliches Subjekt gäbe, das eine Entscheidung trifft."
Unbewusste Erwartungen
Den Vorgang der Identifikation mit einem Gender beschreibt Butler auch in einem Vortrag, den sie Ende Januar in Berlin gehalten hat:
"Zum Mädchen gemacht zu werden oder zum Jungen, bedeutet in eine Welt eingeführt zu werden, in der es bereits Vorstellungen über Mädchen und Jungen gibt. […] Wenn die Erwachsenenwelt das Kind als dieses Gender oder ein anderes bestimmt, dann gibt sie ihre Erwartungen weiter, ihre eigenen Wünsche, ja, ihre eigenen Phantasien, in einer Weise, die nicht immer bewusst gemacht oder zurückverfolgt werden können. […] Jedenfalls gehen wir aus solchen Phantasien hervor, Phantasien, die nicht unsere eigenen sind, die sozial vermittelt sind, auf Weisen, deren wir uns nicht immer bewusst sind."
Gleichheit, Freiheit und Naturschutz
In diesem Vortrag macht Butler auch deutlich, dass Gender Studies nicht nur auf Geschlechterfragen abzielen, sondern allgemein darauf, "eine Welt größerer Gleichheit und Freiheit vorstellbar zu machen, aber auch eine der sozialen Würde und des lebenswerten Lebens; die Verbindung zwischen sozialen Kämpfen und dem Kampf für die Erde zu verstehen, deren Existenzrechte nicht die Form menschlichen Rechts annehmen, sondern diesem übergeordnet sind."
Auch Villa und Schönwälder unterstreichen das Interesse der Gender Studies für das Mensch-Natur-Verhältnis. Die feministische Auseinandersetzung mit Herrschaftsverhältnissen habe immer auch die Ausbeutung der Natur mitgedacht und die grundsätzliche Frage gestellt: "Wie könnte ein Umgang mit Natur aussehen, der nicht von Herrschaft, Verfügbarmachung und von Aneignung geprägt ist?"
Butlers Denken sei getragen von den zentralen Versprechen der Moderne: Freiheit und Gleichheit. "Wenn Sie Judith Butler richtig ärgern wollen, dann bezeichnen Sie sie als eine 'Postmoderne', das will sie nicht", sagt Schönwälder.
Ungleichheiten sichtbar machen
Im Zentrum vieler ihrer Texte stehe die Frage, führt Villa aus, wie sich diese Versprechen einlösen lassen; "wie sich Universalismus universalisieren lässt, demokratisieren lässt, wie er sich auch hier und heute weiterhin und immer wieder neu realisieren lässt."
Denn empirisch betrachtet gelten die Menschenrechte auch heute noch nicht für alle Menschen im gleichen Maße – ganz im Gegenteil, es würden bestimmte Gruppen systematisch ausgegrenzt und abgewertet:
"Wer ist wie 'lebenswert', wer hat welchen Zugang zu Gesundheit, wer wird betrauert, wer hat das Recht auf Anerkennung, wer wird ausgebeutet, als Menschenmaterial benutzt?" Diese Fragen in den Blick zu nehmen, sei das große Verdienst Butlers und zugleich die zentrale Aufgabe der Gender Studies, wie Villa und Schönwälder betonen: "Wer wird aufgrund welcher vermeintlichen Gruppeneigenschaften zum Opfer von Gewalt? Und wer wird warum ausgeschlossen aus der Gesellschaft?"
Identitätspolitik: Notwendig, aber kein Selbstzweck
Dass diskriminierte Menschen heute um die Anerkennung ihrer sexuellen oder ethnischen "Identität" kämpfen – etwa als Queer, Trans oder People of Color –, habe nicht zuletzt pragmatische Gründe: Nur so könnten sie überhaupt als Gruppe politisch agieren. Und auch die politische Repräsentation oder die Verteilung von Geldern basierten heute nun mal auf bestimmten Identitäten. Langfristig aber sei das Ziel ein anderes, sagt Schönwälder:
"Menschen sollten als sie selbst anerkannt werden, nicht weil sie einer bestimmten Gruppe angehören. Das wäre der ferne Wunsch."
Außerdem in dieser Ausgabe von Sein und Streit:
Philosophischer Kommentar zum Weinstein-Urteil: Das ist erst der Anfang
Der Skandal um Harvey Weinstein hatte die internationale Diskussion um sexuelle Gewalt gegen Frauen angestoßen. Geht #metoo mit der Verurteilung des Filmmoguls zu Ende? Ganz im Gegenteil, kommentiert Eva Marlene Hausteiner.