Hu Anyan: "Ich fahr Pakete aus in Peking"

Das Leben als Rechenaufgabe

06:59 Minuten
Cover des Buches "Ich fahr Pakete aus in Peking" von Hu Anyan
© Suhrkamp Nova

Hu Anyan, aus dem Chinesischen von Monika Li

„Ich fahr Pakete aus in Peking“Suhrkamp Verlag, Berlin 2025

295 Seiten

23,00 Euro

Von Nils Schniederjann |
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Der chinesische Autor Hu Anyan schildert in seinem Bestseller 19 verschiedene Jobs, mit denen er 20 Jahre lang über die Runden kam. Seine nüchterne Protokollprosa offenbart, wie Arbeit das Leben auffrisst – und wird durch ihre Monotonie auch zur politischen Anklage.
Die Rechnung ist simpel. Hu Anyan verdient als Kurierfahrer zwei Yuan pro erfolgreich zugestelltem Paket. Bei elf Stunden Arbeitszeit täglich muss er jede Minute 0,5 Yuan erwirtschaften, um sein Wunschgehalt zu erreichen. Das bedeutet: alle vier Minuten ein Paket Anyan rechnet vor:

Wenn eine Minute 0,5 Yuan wert war, dann kostete Pinkeln einen Yuan, aber nur, wenn die Toiletten kostenlos waren. Ein Mittagessen dauerte zwanzig Minuten – zehn davon musste ich auf das Essen warten – also waren es 10 Yuan Zeitkosten. Ein einfaches Gericht mit Reis und Fleisch kostete 15 Yuan. Zu extravagant für mich! Also aß ich normalerweise kein Mittagessen. Um weniger aufs Klo gehen zu müssen, trank ich morgens kaum etwas.

Das Leben wird zur Rechenaufgabe, der Körper zur Ressource auf Zeit. Selten hat man die Logik kapitalistischer Arbeitsverhältnisse so abgeklärt und nüchtern vor Augen geführt bekommen wie in diesem Buch. Anyan, dessen erster Text über seine Erfahrungen als Lieferfahrer 2020 in China viral ging, protokolliert in dieser Veröffentlichung 19 verschiedene Jobs, die er in zwei Jahrzehnten ausübte. Die Beschreibungen sind drastisch, aber nie reißerisch. Anyan konzentriert sich auf die kleinen Momente: Die Frustration, wenn ein Kunde das Paket nicht annehmen will. Streitereien mit Kollegen. Die Frage, wie man über die Runden kommt ohne Grundlohn.

Protokoll der Monotonie

Das Buch folgt dabei keiner linearen Erzählung. Anyan springt zwischen den Jahren, zwischen den Jobs. Erst die Zeit als Kurierfahrer Ende der 2010er, dann plötzlich die ersten Jahre im Logistikzentrum ein Jahrzehnt früher. Diese Struktur irritiert zunächst, ergibt aber Sinn: Was die verschiedenen Tätigkeiten verbindet, ist ihre grundsätzliche Austauschbarkeit. Der Inhalt der Arbeit mag wechseln, die Grundstruktur bleibt gleich. Arbeit zeigt der Autor als etwas, das dem Leben unversöhnlich gegenübersteht.

Ein solches Arbeits-Umfeld quetschte das letzte bisschen Leben aus einem heraus. Man war emotional überfordert und wurde schließlich apathisch und gleichgültig, ohne es zu merken. Diese Art von Arbeit zerstörte einem die Seele. Die zermürbend langen Nachtschichten und die Überarbeitung machten es schwieriger, die eigenen Gefühle unter Kontrolle zu halten.

Die Unsichtbarkeit der Ausbeutung

Man muss ehrlich sein: Weite Strecken des Buches sind mühsam zu lesen. Seitenweise Beschreibungen monotoner Tätigkeiten versprechen nicht, mit plotgetriebener Literatur mitzuhalten. Doch genau in der Monotonie liegt die Stärke des Textes. Anyan formuliert keine direkte politische Anklage, er beschreibt. Gerade dadurch wird die systematische Zerstörung von Lebens- durch Arbeitszeit sichtbar, die nicht nur in China stattfindet, sondern die Grundstruktur kapitalistischen Wirtschaftens ausmacht. Anyan neigt dabei nicht zu Verallgemeinerungen, seine Stärke liegt im Detail.

Ich begann morgens nach dem Frühstück um 6 Uhr mit der Arbeit und kam erst abends nach 9 Uhr zu meiner zweiten Mahlzeit, verspürte allerdings kein Hungergefühl. In der Zeit, in der ich eigentlich hätte hungrig sein müssen, war ich wahrscheinlich so auf die Arbeit fokussiert, dass ich die Bedürfnisse meines Körpers nicht wahrnahm und sie dann nach einer Weile einfach verschwanden. Meine Körperfunktionen schienen sich automatisch anzupassen, wenn es nötig war.

Seine nüchterne Protokollprosa trifft einen wunden Punkt: Das Buch wurde nicht nur in China zum Bestseller, sondern nun auch in zig verschiedene Sprachen übersetzt, weil es eine universelle Erfahrung artikuliert, die oft sprachlos bleibt. Ein weiterer interessanter Aspekt ist, dass es Passagen gibt, die sich aus westlicher Sicht durchaus als vielleicht unfreiwillige Systemkritik lesen. Etwa wenn Anyan von seiner Arbeit an einer Tankstelle berichtet:

An der neuen Tankstelle war plötzlich die Rede von militärischer Mitarbeiterführung. Am nervigsten war, dass wir in Schlafsälen neben der Tankstelle schlafen mussten, um jederzeit abrufbereit zu sein, und nicht mehr nach Hause durften. Ich war nur eine Aushilfe, die gerade mal lächerliche 1800 Yuan Gehalt bekam, ohne Versicherungsschutz. […] Ich war auch nicht wütend über diese Ungerechtigkeit, sondern machte mir Sorgen, die Ansprüche der Firma nicht zu erfüllen und Probleme für den Rest des Teams zu verursachen.“

Ein Bericht von universeller Gültigkeit

Das Besondere und Überraschende an Anyans Text ist diese fehlende Verbitterung. Er klagt niemanden offen an, sondern berichtet einfach. Diese Haltung macht das Buch zu mehr als einem Dokument chinesischer Arbeitsverhältnisse. Es ist ein Bericht über die stumpfen, repetitiven, aber notwendigen Tätigkeiten, denen ein Großteil der Weltbevölkerung täglich nachgeht.
Nicht mit allem kann man sich aus westlicher Perspektive identifizieren. Die spezifischen Bedingungen unterscheiden sich. Aber dass Arbeit das Leben auffrisst, ist eine universelle Erfahrung in einem System, dessen oberstes Ziel nicht die Verbesserung der Lebensumstände, sondern der Profit ist. Anyans Buch zeigt, wie sich die Warenförmigkeit der eigenen Arbeitszeit anfühlt, wenn man sie bis in die letzte Minute durchrechnet. Wenn Pinkeln zum Kostenfaktor wird. Wenn der Körper sich anpasst, weil Widerstand keine Option ist.
Das ist kein politisches Manifest. Es ist einfach ein ruhiger, ausdauernder Bericht darüber, wie Arbeit funktioniert, wenn man zu den Menschen gehört, die keine Wahl haben. Gerade diese Nüchternheit macht den Text so eindrücklich. Man legt das Buch nicht begeistert, aber auch nicht unverändert aus der Hand.
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