Als das Kind ein Vierteljahr alt war, brachte ich es jeden Morgen in die Kinderkrippe, pumpte die Milch ab und gab sie mit. Als das Kind drei war, brachte ich es in den Kindergarten. Im Winter den Kinderwagen durch den Schnee. Abends das müde Kind, das schreiende Kind, das kranke Kind. Und meine Müdigkeit, mein Schreien, meine Krankheiten. Das zweite Kind wäre ein Jahr jünger gewesen. Ich habe es nicht geboren.
Helga Schubert: "Luft zum Leben. Geschichten vom Übergang"
© dtv
Innere Freiheit, klarer Verstand

Helga Schubert
Luft zum Leben. Geschichten vom Übergangdtv, München 2025288 Seiten
24,00 Euro
Die 85-jährige Schriftstellerin Helga Schubert hat in „Luft zum Leben“ Texte aus sieben Jahrzehnten zusammengestellt. Sie dokumentieren den Alltag in der DDR lakonisch und beobachtungsstark.
38 Texte sind in „Luft zum Leben“ zusammengestellt, entstanden in den Jahren zwischen 1960 und 2025. Exakt die Hälfte davon sind Erstveröffentlichungen. Es ist also weit mehr als eine Resttextesammlung, die Helga Schubert hier zusammengestellt hat. Vielmehr wird in „Luft zum Leben“ eine Biografie in ihren Wendungen und Erfahrungen, wenn auch chronologisch ungeordnet, noch einmal rekapituliert.
Übers Muttersein
Im Verlauf der Lektüre kristallisieren sich thematische Schwerpunkte heraus. Helga Schuberts erzählerische Fähigkeiten blitzen in jedem Text auf: Ihre Beschreibungen des Alltags sind so anschaulich wie komprimiert; der Ton ist nüchtern und frei von jedem Pathos. So beispielsweise in der Geschichte, die dem Band seinen Titel gibt und in der Helga Schubert von ihrer ersten Schwangerschaft erzählt. Da ist sie 19 Jahre alt, steckt mitten in der Ausbildung. Kurz nach der Entbindung nimmt sie ihren Alltag wieder auf.
Im Fortgang dieser 1980 erstmals veröffentlichten Geschichte erzählt Helga Schubert quasi im Zeitraffer das Leben ihres Sohnes von der Stillzeit über die Pubertät bis hin zu jenem Tag, an dem er in die Nationale Volksarmee eintritt. Und wenn der Sohn die Mutter aus der Kaserne heraus in einem Brief erstmals mit „Liebes Mütterchen“ anredet, ist endgültig klar, dass für gleich zwei Menschen ein neuer Lebensabschnitt begonnen hat.
Innere Unabhängigkeit
Helga Schuberts Blick auf sich und die Welt ist unverstellt. Was sie auszeichnet, ist eine große innere Unabhängigkeit. Seit sie 1975 mit dem Schreiben begonnen hat, war sie im Visier der Staatssicherheit. Im Text „Die Diktatur ist die Täterin. Oder?“, einem Vortrag aus dem Jahr 2022, dokumentiert Schubert Auszüge aus ihrer Stasi-Akte.
Der Anlass für den operativen Vorgang war ihre Beteiligung an der von den Autoren selbst verfielfältigten Anthologie „Berliner Geschichten“, die einen, wie es heißt, „den Sozialismus diffamierenden Charakter“ aufgewiesen haben sollen. Schubert hat sich selbst nicht als Aktivistin betrachtet, sondern eher als eine distanziert-kritische Beobachterin der Verhältnisse.
Ich habe für mein Geschriebenes weder im Gefängnis gesessen noch eine Geldstrafe zahlen müssen. Ich wollte dieses System nämlich nicht ändern, sondern ich wollte es überhaupt nicht haben. Ich glaube, das hat mich geschützt.
Es gibt viele starke, eindrückliche Texte in „Luft zum Leben“; Texte, denen die Jahrzehnte nichts anhaben konnten und die Zeitgeschichte und Atmosphäre transportieren.
Opportunismus in der DDR
Einer der Höhepunkte des Bandes ist die Erzählung „Das verbotene Zimmer“, in dem Schubert die Eindrücke eines Tagesaufenthalts in West-Berlin im Jahr 1978 mit ihren Erinnerungen an die Vormauerzeit einerseits und ihre Ost-Berliner Lebensrealität andererseits abgleicht. Schuberts Blick ist stets politisch und persönlich zugleich und vor allem entlarvend, wenn es um den Opportunismus geht, der das DDR-System getragen hat. So beispielsweise in einer Diskussion mit ihrer Dozentin im Doktoranden-Seminar über die Grenzmauer der USA zu Mexiko. 1975 war das.
Und als ich sagte, die Mauer dort ist aber doch gebaut, um niemand hereinzulassen, und unsere Mauer, um die Menschen zurückzuhalten, antwortete sie höflich, gar nicht belehrend, eigentlich resigniert, so waren die meisten, die Irrsinn redeten: Ich habe es Ihnen doch eben erklärt. Und bitte, sagten ihre Augen, fragen Sie doch nicht nach Zusammenhängen, die ich genauso sehe wie Sie. Ich möchte doch nur bald meine Ruhe und meine Altersversorgung haben.
Je näher das Entstehungsdatum der Texte in „Luft zum Leben“ an der Gegenwart liegt, desto kürzer und luftiger werden sie. Wenn Schubert, die in Kreuzberg geborene und später unfreiwillige Ost-Berlinerin, über ihr Leben im geteilten Staat nachdenkt, resümiert sie: „Genau genommen hätte man auch verrückt werden können. Oder?“
Dazu kam es nicht. „Luft zum Leben“ ist die Einladung zum Gang durch das Werk einer Autorin, die zwei Dinge ganz sicher stets bewahrt hat: ihre innere Freiheit und den klaren Verstand.




















