Ostdeutschland

Mehr als Stasi und Mauer

Fans des Vereins FC Magdeburg halten Schals in die Höhe mit der Aufschrift "Ostdeutschland".
Ein Gefühl von Heimat: Fußballfans von Vereinen der ehemaligen DDR-Oberliga knüpfen - wie hier beim FC Magdeburg - immer wieder an die Geschichte ihres Clubs an. © imago / Jan Huebner / Michael Taeger
Der Osten erregt die Gemüter, auch mehr als 30 Jahre nach dem Ende der DDR. Anlass der jüngsten Debatte sind zwei Bücher. Dirk Oschmann und Katja Hoyer hinterfragen darin den gängigen westdeutschen Blick. Doch worüber wird diskutiert?

Was sagt Katja Hoyer über die Geschichte der DDR?

Angela Merkel hielt nur wenige Monate vor dem Ende ihrer Kanzlerinnenschaft eine ungewöhnlich persönliche Rede. Dafür nahm sie 2021 am Tag der Deutschen Einheit in Halle an der Saale eine Publikation der CDU-nahen Konrad-Adenauer-Stiftung zum Anlass, die sie sichtlich verärgert hatte.
In der Schrift wurde Merkels politische Anpassungsfähigkeit angesichts des „Ballasts“ ihrer DDR-Biografie gelobt, was die Kanzlerin zurückweist: "Als zähle dieses Leben vor der Deutschen Einheit nicht wirklich."
Mit dieser Anekdote beginnt die in der Wilhelm-Pieck-Stadt Guben geborene Historikerin Katja Hoyer ihr Buch „Diesseits der Mauer“ – vom Verlag als „neue Geschichte der DDR“ angepriesen. Genau um diesen Ballast geht es. Damit sind Geschichten derjenigen gemeint, die in der DDR gelebt, geliebt, gearbeitet haben und alt geworden sind, wie sie schreibt.

Ihr Schicksal verdient einen Platz in der gesamtdeutschen Geschichte. Es ist an der Zeit, einen ernsthaften Blick auf das Deutschland diesseits der Mauer zu werfen.

Katja Hoyer, Historikerin

In „Diesseits der Mauer“ geht es vor allem um die Perspektive der alltäglichen Lebenserfahrungen jenseits von Politik. Das bedeutet keineswegs, dass die gewaltvolle Geschichte der DDR-Staatsgründung inklusive der stalinistischen Verrohung ihrer Gründungsväter ausgelassen wird.
Ganz im Gegenteil. Hoyer beschreibt, wie die KPD-Kader im russischen Exil zwischen Hitler und Stalin aufgerieben wurden und sich durch Denunziantentum auszeichneten. So wurden sie letztlich so paranoid, dass sie nie einen Draht zu ihrem eigenen Volk gefunden haben.

Die Wende ist keine Stunde Null

Im Osten ist selten von Wiedervereinigung die Rede, so Hoyer. Dort spricht man eher von Wende, was die Lebensrealität der Menschen besser abbildet.
Während man im Westen weitermachen konnte wie bisher, blieb im Osten kein Stein auf dem anderen: Ganze Biografien wurden abgewertet, Ausbildungen waren nichts mehr wert und Erfahrungen waren nur noch Ballast, den es abzuschütteln galt.

Es ist an der Zeit, die Deutsche Demokratische Republik als das zu verstehen, was sie ist – ein Teil der deutschen Geschichte, jenseits der Mauer.

Katja Hoyer, Historikerin

Der Titel der englischsprachigen Originalausgabe „Beyond the Wall“ ist durchaus auch zeitlich zu verstehen. Dieser bedeutet so viel wie „über die Wende hinaus“. Gemeint ist die Zeit davor und danach. Die Wende ist keine Stunde Null, so Hoyer. Sie plädiert dafür, "die Wende als den Beginn eines dynamischen Prozesses zu begreifen". Dieser ostdeutsche Ansatz sei "konstruktiver".

Was sagt Dirk Oschmann zum Bild des Westens über Ostdeutschland?

Um die von Angela Merkel kritisierte Rahmung - oder auch Framing - ostdeutscher Erfahrung als Ballast geht es in Dirk Oschmanns Bestseller „Der Osten: eine Erfindung des Westens“. Der in Gotha geborene Literaturwissenschaftler blickt dafür auf die Zuschreibungen, die für Ostdeutsche und den Osten gewählt werden und auf deren Herkunft: Es sind westdeutsche Zuschreibungen, ist der in Leipzig lehrende Professor überzeugt.
Oschmann geht in seiner Argumentation postkolonial vor. Diese Analysemethode hat auch eine Zeitdimension: „Post“ ist zeitlich als Zustand nach der Kolonisierung gemeint, denn Oschmann spürt in seinem Buch (neo)kolonialen Denkhaltungen und Handlungsweisen nach, die sich im Umgang mit dem Osten niedergeschlagen haben.
„Post“ meint aber auch den gesellschaftlichen, verregelten Zustand seit der Kolonisierung, also die Weichenstellungen der Wendezeit, die bis heute nachwirken: der Elitentransfer, der Ausverkauf der Wirtschaft durch die Treuhand, die Abwertung von Lebenserfahrungen.
Für Oschmann ist klar: Der Westen gilt als der Normalfall und der Osten als Ausnahme. Das eine ist die Hauptgeschichte, das andere die Anomalie. Oder, wie die Historikerin Katja Hoyer es beschreibt: die Abweichung von der Hauptgeschichte.
Die aktuell dominierende Geschichte Gesamtdeutschlands sei somit die Geschichte der Sieger, also die Westdeutschlands, sagt sie. Die Sicht der Verlierer komme zu kurz. Hier treffen sich Oschmann und Hoyer.

Was wollen Dirk Oschmann und Katja Hoyer?

Was die Historikerin Katja Hoyer und der Literaturwissenschaftler Dirk Oschmann wollen, ist eine Diskursverschiebung sowie eine Erweiterung der gesamtdeutschen Geschichte um die Perspektive der Verlierer. Oschmann sagt, er spitze seine Thesen absichtlich zu, übertreibe mit seinen Aussagen, um überhaupt gehört zu werden. Nur dadurch werde Aufmerksamkeit auf sein Thema gelenkt. Es gehe darin um den Zustand heute, die Zuschreibungen und das Image des Ostens, und dass diese vom Westen geprägt seien.
Wie sehr man es hier mit einem Versuch der Diskursverschiebung zu tun hat, sieht man an den unterschiedlichen Resonanzen auf Hoyers Buch. Diese unterscheiden sich je nach Land, in dem es erschienen ist.
Während „Beyond the Wall“ in Großbritannien positiv aufgenommen wird, erntet hierzulande die deutsche Ausgabe „Diesseits der Mauer“ zum Teil harsche Kritik - eben weil sie dem regulären Diskurs zuwiderläuft: Der Fokus des Buchs liegt nicht auf der Beschreibung der DDR als Unrechtsstaat, sondern auf der Beschreibung der DDR als Staat, in dem sich eine große Mehrheit eingerichtet hat und in dem diese Mehrheit durchaus auch glückliche Momente hatte. So will die in England lebende Historikerin zeigen, was alles an ostdeutschen Lebenserfahrungen nicht bekannt ist.

Welche Kritik gibt es an den beiden Büchern?

Diskurse verleihen Aussagen Wahrheit. Stellt man sich außerhalb eines Diskurses, hat man es schwer, gehört zu werden. Deswegen gibt es sowohl zum Buch von Katja Hoyer wie dem von Dirk Oschmann so viele unterschiedliche Kritiken.
Bei diesen Kritiken schwingt immer mit, dass es jeweils um mehr als nur um das Thema des Buchs geht. Es geht um Wahrheit, um legitime Geschichte und Geschichten. Genau das wird beiden vorgeworfen: ein verfälschender Umgang mit Geschichte oder gar eine Verharmlosung der DDR-Geschichte.

Kein Geschichtsbuch, sondern eins über Wahrnehmung

Auf Kritik, wonach die DDR-Bürger nach der Wende das westliche System, den schnellen Beitritt zur BRD selbst gewählt hätten und er in dieser Hinsicht ahistorisch argumentiere, antwortet Oschmann, dass das nicht das Thema seines Buchs sei. Er wollte kein Buch über Geschichte schreiben, sondern über Wahrnehmung.
Hoyer wird vor allem vorgeworfen, sie trenne zwischen Alltag und Diktatur, wodurch sie Gewalt verschweige und die DDR verharmlose. Hoyer entgegnet, dass sie kaum klarer auch die Schattenseiten der DDR hätte beschreiben können.
Hoyer wird zudem vorgeworfen, sie hätte den aktuellen Forschungsstand nicht ausreichend berücksichtigt und keine eigenen Archivrecherchen betrieben. Außerdem komme die Opferperspektive zu kurz und zahlreiche Zeitzeugen seien als „SED-nah“ anzusehen, etwa der ehemalige DDR-Staatsratsvorsitzende Egon Krenz.

Ist die Kritik an Oschmann und Hoyer berechtigt?

Das Besondere ist, dass hier zwei Bücher von Ostdeutschen vorliegen, die sich querstellen - und die zu lesen sich lohnt. Dabei kommt es ganz auf den Blickwinkel an. Lässt man außer Acht, was Dirk Oschmann und Katja Hoyer jeweils in ihren Einleitungen schreiben oder was sie begleitend zum Buch erklären, kann man sagen: Da fehlt jeweils etwas.
Dieses „Etwas“ ist der diskursiv hergestellte Rahmen, wie seit der Wende über die DDR gesprochen werden muss: Die DDR als Unrechtsstaat, in dem es keine Freude gegeben haben kann.
Schenkt man den Äußerungen der Autoren aber Glauben, dann machen beide Bücher genau das, was sie vorgeben. Sie erweitern den Blick auf die DDR – auch wenn man nicht sagen kann, sie leuchteten blinde Flecken aus, weil der Inhalt beider Bücher lange bekannt ist.

ckr
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