Schriftstellerin Helga Schubert

Der kleine Sieg über die Diktatur

77:17 Minuten
Helga Schubert
"Ich war immer artig", erinnert sich Helga Schubert an die Zeit in der DDR. Gefügig gegenüber dem Staat war sie dennoch nicht. © Jörn von Jouanne
Moderation: Britta Bürger · 03.10.2020
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Den Ingeborg-Bachmann-Preis 2020 bekam die 80-jährige Schriftstellerin Helga Schubert. Und das 40 Jahre, nachdem die DDR-Führung ihr eine erste Teilnahme an dem Wettbewerb verboten hatte. Schuberts eigene Lebensgeschichte ist spannend wie ein Roman.
Für Helga Schubert ist der 3. Oktober, der Tag der Deutschen Einheit, ein Feiertag – und zwar "von Anfang an", seit 1990. Denn die DDR, in der sie die ersten fünf Jahrzehnte ihres Lebens verbracht hatte, war für sie eine Diktatur.
Dass Schubert mit 80 Jahren die bisher älteste Preisträgerin des renommierten Ingeborg-Bachmann-Preises für deutschsprachige Literatur geworden ist, sieht sie als nachträglichen "kleinen Sieg über die Diktatur". 1980 war sie schon einmal zum Lesewettbewerb nach Klagenfurt eingeladen worden, der DDR-Schriftstellerverband hatte ihr die Teilnahme jedoch untersagt.

"Ich wusste, was los ist"

In den DDR-Literaturbetrieb kam Helga Schubert in den 70er-Jahren als Quereinsteigerin. Eigentlich war sie Diplom-Psychologin. Seit 1963 war sie in Ostberlin vor allem in der Ehe- und Familienberatung tätig. Dabei lernte sie die innere Not vieler DDR-Bürger kennen, gerade was die Frage betrifft, ob man lieber bleiben oder einen Ausreiseantrag stellen sollte: "Ich wusste, was los ist."
Nebenher schrieb Schubert. Die große Dichterin Sarah Kirsch wurde auf ihr Talent aufmerksam, öffnete ihr die Tür zum Aufbau Verlag, wo Schubert 1975 ihren ersten Band mit Erzählungen veröffentlichte: "Lauter Leben". Es folgten Kinderbücher, Hörspiele, Drehbücher, literarische Reportagen.

Die Menschen "in ihrer ganzen Verrücktheit"

Ihre Art zu schreiben hat einiges mit ihrem Hintergrund als Psychologin zu tun. Schubert hört den Menschen genau zu, sie akzeptiert sie "in ihrer ganzen Verrücktheit und Absurdität und in ihrem ganzen Leid". Das Gehörte "kondensiert" sie gedanklich, als würde sie aus Äpfeln Apfelsaft machen und den zu Apfelschnaps brennen. Und dann schreibt sie es "wie unter Diktat" auf.
Wobei sie zu DDR-Zeiten durchaus wusste, dass sie unter den Bedingungen einer Diktatur schrieb. "Ich war immer artig", sagt Schubert rückblickend. Und vorsichtig war sie auch: Als ihr eine Dame aus der Parteileitung des Schriftstellerverbands anbot, ihr jeden Montag den neuesten "Spiegel" mitzubringen und mit ihr darüber zu diskutieren, lehnte Schubert ab.
Diese Vorsicht ist geblieben: "Immerzu bin ich 15 Zentimeter hinter meinem Körper und kontrolliere, was aus meinem Mund kommt."

Ihr Umfeld widerstand der Stasi

Dennoch stand Schubert seit 1976 unter Beobachtung der Stasi. Viel davon bemerkt habe sie nicht, außer dass die Briefumschläge ihrer Post "immer so krisselig" waren, weil sie vor der Zustellung über Wasserdampf geöffnet wurden, damit die Staatsmacht mitlesen konnte.
Erst als sie nach der Wende ihre Stasi-Akte lesen konnte, erfuhr sie von den vergeblichen Versuchen des MfS, inoffizielle Mitarbeiter in ihrer Umgebung zu platzieren, um sie auszuhorchen. Ein "Ehrenzeugnis" für die Menschen in ihrem privaten Umfeld, die standhaft geblieben waren.

Die schwierige Nachbarin Christa Wolf

Schwierig war Schuberts Verhältnis zur berühmten Schriftstellerin Christa Wolf. Die hatte ihr 1975 das Häuschen in der Siedlung Neu Meteln in Mecklenburg vermittelt, in dem Schubert noch heute lebt. Wolf war dort ihre Nachbarin.
1983 kam es zum Zerwürfnis. Noch heute wirft Schubert Christa Wolf deren Nähe zum DDR-Regime und der Stasi vor, allerdings ohne Groll und Ressentiments, wie sie sagt. Als Therapeutin wie als Schriftstellerin habe sie gelernt, dass man so nicht leben soll.

"Gutsituierte Linke, die in der Toskana Urlaub machen"

Ihre Verbindungen zur evangelischen Kirche brachten Schubert in der Wendezeit in eine für sie völlig neue Position: 1989/90 war sie Pressesprecherin des Zentralen Runden Tischs in Ostberlin und machte sich bei einigen Teilnehmenden dieses Dialogs zwischen Staatsmacht und Bürgerbewegung "sehr unbeliebt". Nämlich denen, die sie als SED-Kader outete, die unter falscher Flagge an den Gesprächen teilnahmen. Die Folge: Bombendrohungen.
Diese Erfahrung brachte Schubert dazu, sich schon früh für die Wiedervereinigung einzusetzen statt einer sozialistischen DDR in Freiheit, wie dies Berater aus dem Westen vorschlugen. Nach ihrem Eindruck handelte es sich dabei um "gutsituierte Linke, die in der Toskana ihren Urlaub machen und sagen, wie wir es jetzt mal endlich richtig machen."
Sie dagegen sah ohne Wiedervereinigung "die Gefahr eines Rückschlags, dass diese ganze Sache kippt", dass Funktionsträger der alten DDR die Macht wieder an sich reißen könnten. Politikerin wollte Schubert aber nie werden, dazu sei sie zu rigoros: "In der Therapie habe ich immer allen zu Kompromissen geraten", aber politisch lagen ihr die nicht.

Wie wird man zum Täter?

Stattdessen ging die Schriftstellerin in der Wendezeit und danach in die Archive: "Ich kam jetzt endlich an die Akten ran." Akten der deutschen Diktaturen, in denen Täter und deren Opfer Namen und Gesicht bekamen.
Ergebnis dieser Recherchen waren zwei zeitgeschichtliche literarische Dokumentationen: "Judasfrauen" über Denunziantinnen im "Dritten Reich" und "Die Welt da drinnen" über die sogenannte Euthanasie in der NS-Zeit.
Ihr Motiv für beide Bücher: "Nachdem ich selbst in einer Diktatur gelebt habe, interessiert mich, wie man zum Täter wird." Ihre Antwort: In der Diktatur würden viele Menschen "ihres Schutzes davor beraubt, Täter zu werden". Hätten sie in einer offenen Gesellschaft gelebt, wären viele der Täter "anständig geblieben".

Literarische Auseinandersetzung mit der Mutter

Der Text, mit dem Schubert in diesem Jahr den Ingeborg-Bachmann-Preis gewonnen hat, dreht sich aber nicht um ihr Lebensthema Diktatur, sondern ist sehr persönlich: eine Auseinandersetzung mit ihrer Mutter, die vor vier Jahren im Alter von 101 Jahren gestorben ist.
Zu Lebzeiten hatte Schubert es nicht geschafft, mit dieser sehr dominanten Frau Frieden zu schließen. Nach deren Tod merkte sie, dass sie ihre Ambivalenz zur Mutter aus Respekt, Bewunderung und Angst literarisch ausdrücken müsse, denn: "Ich bin ja erst erwachsen, wenn ich ein Gleichgewicht schaffe."
Und dafür ist es auch mit 80 Jahren nicht zu spät.
(pag)
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