Originalton

Die Moschee von Edirne

Die große Kaisermoschee von Edirne mit vier Minaretten.
Die große Kaisermoschee von Edirne mit vier Minaretten © dpa / picture alliance / Scholz
Von Stefan Weidner · 21.08.2014
Kleine Formen erproben und mit den Möglichkeiten des Radios spielen: "Originalton" heißt ein täglicher Bestandteil unserer Sendung "Lesart" - kurze Texte, um die wir Schriftstellerinnen und Schriftsteller bitten. In dieser Woche liest Stefan Weidner Klassiker der Reiseliteratur neu.
"Die Fuhrleute und die, welche Pferde an Reisende vermieten, rechnen von Konstinopel bis Adrianopol vierundvierzigeinhalb Stunden. Adrianopel, türkisch Eddrene, ehemals Orestes, ward 1360 von Sultan Murad erobert und nachher die Residenz der türkischen Monarchen, bis Mohammed der Zweite auch Konstantinopel eroberte. Noch jetzt hat der Sultan hier ein weitläufiges Serail, dessen verschiedene Gebäude mit Blei bedeckt sind, und die großen Moscheen, welche die Sultans Murad, Mohammed, Bajasid und Selim in dieser Stadt haben bauen lassen. Übrigens sind diese wie so alle prächtigen Moscheen in der Türkei nach dem Modell der St. Sophie zu Konstantinopel gebaut worden."
Die Reisebusunternehmen, welche am Istanbuler Busbahnhof die Tickets nach Edirne verkaufen, rechnen für die Fahrt zwei Stunden, und es lohnt sich. Wie still diese Provinzstadt im äußersten Westen der Türkei nach dem Lärm von Istanbul wirkt!
Ich weiß nichts von diesem Ort, außer dass Carsten Niebuhr 1767 am Ende seiner Reise nach Arabien hier Halt machte. Schnell finde ich die Moschee von Murad, die Niebuhr erwähnt. Sie hat drei aus weiß-rotem Sandstein jeweils unterschiedlich gemusterte Minarette und heißt dementsprechend üç şerefeli, das heißt "Die Moschee mit den drei Ausgucken".
Im Gebetssaal beginnt der Weltraum
Die älteste Moschee, folgerichtig "alte Moschee" genannt, ist die von Sultan Mohammed. Gedrungen und schwer liegt sie beim überdachten Bazar. Oben auf dem Hügel der Stadt aber thront die Moschee von Sultan Selim. Ich laufe hinauf, betrete den Hof und dann den Gebetsaal und kann es nicht fassen. Was ist das? Das ist keine Moschee mehr, kein Sakralbau. Es ist auch sonst nichts. Es ist, sobald man darin ist, nur noch ein Raum.
Die Verkörperung der absoluten Idee des Raums, eine steingewordene kantische Anschauung. Doch selbst der Stein ist hier nicht mehr wirklich Stein, sondern etwas ganz Leichtes, wie ein Ballon. Als wäre ich, indem ich den Gebetssaal betreten habe, direkt in den Weltraum gelangt. Es ist ein Weltraum, der mich weit überragt und mich zugleich umgibt, beschützt und mir meinen Platz zuweist; so dass ich fast glücklich bin, mich ihm als Raum unterwerfen und anvertrauen zu dürfen – ein wahrhaft ozeanisches Raumgefühl, und es hätte nicht viel gefehlt und ich wäre gläubig geworden an diesem Ort.
Später lese ich nach, dass die im Jahr 1575 vollendete Moschee Selims als das Meisterstück des großen Architekten Sinan gilt. Sie stellt in den Schatten alles, was ich an Moscheebauten in Istanbul oder sonst in der islamischen Welt bis heute gesehen habe, und sie steht in Adrianopel, türkisch Edirne, ehemals Orestes.
Der Journalist, Schriftsteller und Übersetzer Stefan Weidner hält am 16.09.2011 im Friedenssaal im Rathaus in Osnabrück eine Laudatio.
Der Journalist, Schriftsteller und Übersetzer Stefan Weidner © picture-alliance / dpa / Friso Gentsch

Stefan Weidner, Jahrgang 1967, arbeitet als Autor, Übersetzer und Literaturkritiker. Er hat zahlreiche Lyriker aus dem Arabischen übersetzt, darunter Adonis und Mahmud Darwisch - und er reist viel.

Für Deutschlandradio Kultur hat er Klassiker der Reiseliteratur neu gelesen - und mit eigenen Reiseerfahrungen kombiniert. Die ersten Folgen liefen in der Sendung "Lesart" als Sommerreihe "Mit Büchern reisen". Nun wird die Serie in der Rubrik "Originalton" fortgesetzt.

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