NS-Prozesse gegen Hochbetagte

Wie sinnvoll sind späte Verfahren?

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Ein angeklagter ehemaliger KZ-Wachmann kommt mit Hilfe von Sanitätern zur Fortsetzung seines Prozesses in den Gerichtssaal in einer Turnhalle.
Prozess gegen einen ehemaligen KZ-Wachmann: Wenn die Angeklagten verhandlungsfähig sind, spielt ihr Alter keine Rolle. © picture alliance / dpa / Fabian Sommer
Von Annette Wilmes · 22.08.2022
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Die NS-Hauptkriegsverbrecher wurden unmittelbar nach Kriegsende im Nürnberger Prozess vor Gericht gestellt. Erst sehr spät wurden auch „kleinere Rädchen“ zur Rechenschaft gezogen - bis heute. Das Alter der Angeklagten spielt dabei keine Rolle.
Mord verjährt nicht. Allein deshalb muss ein Strafverfahren durchgeführt werden, wenn ein mutmaßlicher Täter oder eine Täterin ermittelt wurde. Aber wie kommt es, dass so spät noch Leute vor Gericht gestellt werden?
„Sie sind ebenso lange Zeit auch verschont worden, 75 Jahre lang“, meint der emeritierte Strafrechtsprofessor Ingo Müller, Autor des Buches „Furchtbare Juristen“. „Und natürlich wäre es besser gewesen, wenn diese Prozesse vor 70 oder 60 Jahren stattgefunden hätten. Aber besser spät als nie.“
Die Hauptkriegsverbrecher wurden unmittelbar nach Kriegsende von den Alliierten im Nürnberger Prozess vor Gericht gestellt und verurteilt. Es folgten 12 weitere Prozesse, die von den Amerikanern durchgeführt wurden, unter anderem gegen Ärzte, gegen Juristen, gegen Industrielle. Aber bereits gegen Ende der vierziger Jahre machte sich eine Schlussstrichmentalität in der jungen Bundesrepublik breit.
Erst 1958 kam es zum Ulmer Einsatzgruppen-Prozess, in dem es um die Massenerschießungen in den besetzten Ostgebieten ging, denen 1941 viele Tausend Menschen zum Opfer gefallen waren. Zum ersten Mal wurde in der breiten Öffentlichkeit bekannt, welche Verbrechen die verschiedenen NS-Polizeieinheiten im Osten begangenen hatten.
„Bisher hatte das niemanden interessiert. Man hat gesagt, Krieg ist nun mal so. Und die planmäßige Vernichtung, die da im Osten stattfand, die kam in diesem Einsatzgruppenprozess das erste Mal in die Öffentlichkeit und führte zu einer wahnsinnigen Erschütterung der öffentlichen Meinung.“

Systematische Ermittlungsarbeit notwendig

Als Folge des Prozesses wurde die Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen mit Sitz in Ludwigsburg errichtet. Denn es war klargeworden, dass eine systematische Ermittlungsarbeit notwendig war, um weitere NS-Verbrechen aufzuklären. Die Stelle hatte jedoch nur eingeschränkte Kompetenzen. Sie war keine Anklagebörde, konnte nur vorermitteln und musste die Sachen an die örtlich zuständigen Staatsanwaltschaften abgeben, „die nicht besonders viel Lust hatten, außer ihrem Routinebetrieb dann noch über Monate blockiert zu werden durch große Prozesse. Und da hat's unheimlich viele Verfahrenseinstellungen gegeben“.
Im Ulmer Einsatzgruppen-Prozess wurden die Angeklagten wegen „Beihilfe zum gemeinschaftlichen Mord“ in 315 bis 3907 Fällen zu Haftstrafen von drei bis zu 15 Jahren verurteilt. Sie galten dem Gericht also nur als Gehilfen der Tat, obwohl sie die Massenmorde an Männern, Frauen und Kindern eigenhändig begangen hatten.

Wenige Täter, viele Gehilfen?

„Täter waren Hitler, Heydrich, Himmler und deren nähere Umgebung, und alle anderen waren nur Gehilfen, selbst Abteilungsleiter im Reichssicherheitshauptamt, Kommandeure von Vernichtungslagern, die waren nur Gehilfen.“
Blick in den gefüllten Plenarsaal des Frankfurter Stadtparlaments während des Auschwitz-Prozesses am 20. Dezember 1963.
Den Auschwitz-Prozess in Frankfurt am Main gegen 22 Männer, die in dem Vernichtungslager gearbeitet hatten, hatte der Generalstaatsanwalt Fritz Bauer gegen viele Widerstände durchgesetzt.© picture alliance / AP Images / Uncredited
Diese vom Bundesgerichtshof bestätigte Rechtsprechung galt auch noch, als 1963 in Frankfurt der Auschwitz-Prozess begann, den der hessische Generalstaatsanwalt Fritz Bauer gegen Widerstände in der Justiz und der Politik durchgesetzt hatte. Hinzu kam, dass den Angeklagten konkret nachgewiesen werden musste, welche Mordtaten sie gefördert hatten. So sprach das Gericht den Lagerarzt Willi Schatz frei, weil ihm nicht eindeutig nachgewiesen werden konnte, an den Selektionen an der Rampe teilgenommen und Menschen in den Tod geschickt zu haben. Zu Unrecht, wie sich viele Jahre später anhand von Fotos herausstellte.
Der Bundesgerichtshof bestätigte erneut die Rechtsprechung. Und so wurden in den nächsten Jahrzehnten viele Verfahren eingestellt, weil die Gerichte keine Möglichkeit sahen, den Einzelnachweis zu führen. Die Wende in der Rechtsprechung ist vor allem dem ehemaligen Richter Thomas Walther zu verdanken, der jahrelang als Ermittler in der Zentralen Stelle Ludwigsburg aktiv war und dafür gesorgt hatte, dass der ehemalige Lageraufseher John Demjanjuk vor Gericht kam und 2011 vom Münchener Landgericht verurteilt wurde. Allein seine Anwesenheit im Lager Sobibor reichte dem Gericht für dieses Urteil.

Wende in der Rechtssprechung

„Es gab da im Osten drei Lager: Belzec, Sobibor und Treblinka. Es waren reine Vernichtungslager. Da gab es auch keine Selektionsentscheidung, sondern alle gingen ins Gas. Und wer im Lager war, hat an der Vernichtung teilgenommen, war Gehilfe der Morde dort.“
Das Urteil gegen Demjanjuk bedeutete zwar eine Wende in der Rechtsprechung. Sie blieb jedoch zunächst ohne Folgen für weitere Prozesse. Denn Demjanjuk starb, bevor sich der Bundesgerichtshof mit dem Fall befassen konnte. Es dauerte noch einmal fünf Jahre, bis das höchste Gericht in Karlsruhe die neue Linie bestätigte.
2016 wurde das Urteil gegen Oskar Gröning, den so genannten Buchhalter von Auschwitz, rechtskräftig. Fortan wurden und werden auch die „kleineren Rädchen“ in der Mordmaschinerie zur Rechenschaft gezogen. Das gilt nicht nur für die Vernichtungslager, sondern für alle Konzentrationslager, weil auch dort hunderttausendfach gemordet wurde. So kam es zu den Prozessen im Fall des 101-jährigen Wachmanns und der 97-jährigen Sekretärin. Das Alter der Angeklagten spielt dabei keine Rolle, aber selbstverständlich wird geprüft, ob sie verhandlungsfähig sind. Die Prozesse sind für die überlebenden Opfer und ihre Angehörigen von enormer Wichtigkeit sind, auch heute noch. Sie wollen über das Grauen berichten.
„Ich glaube, das sind wir ihnen auch schuldig, sie was sagen zu lassen. Die Zeugen sind zum Teil auch sehr viel jünger, denn im KZ konnte man schon als Kind gewesen sein und sich auch erinnern. Diese Geschehnisse, die haben sich ins Gedächtnis eingebrannt. Wer damals sieben oder acht Jahre alt war, kann sehr wohl noch eine sehr präzise Aussage machen.“
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