Prozess gegen Ex-KZ-Sekretärin Imrgard F.

Zeuge erinnert an ermordeten Vater

Von Johannes Kulms · 07.12.2021
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Im Prozess gegen eine ehemalige Sekretärin des KZ Stutthof bei Danzig im heutigen Polen hat der erste Zeuge ausgesagt. Er wurde als Kind in mehrere Konzentrationslager verschleppt. Sein Vater wurde in Stutthof ermordet.
Josef Salomonovic holt ein Foto hervor. Es zeigt einen gut aussehenden Mann mit dunklen lockigen Haaren. Es ist Josef Salomonovic' Vater Erich.
Am 17. September 1944 wurde Erich Salomonovic im Konzentrationslager Stutthof ermordet. Dort war ihm zunächst eine medizinische Behandlung vorgetäuscht und dann eine Benzol-Spritze direkt ins Herz gestoßen worden. Sein Sohn Josef war damals sechs Jahre alt und überlebte mehrere Konzentrationslager.

Die Angeklagte schweigt

Der Gerichtssaal in Itzehoe, in dem der 83-Jährige heute ausgesagt hat, ist karg. Josef Salomonovic hält das DIN A4-große Foto seines Vaters in die Höhe. Er dreht das Bild zu der Frau, die wenige Meter schräg neben ihm sitzt. Irmgard F. schaut auf das Foto und schaut auf Josef Salomonovic. Die 96-Jährige sagt nichts.
Er frage sich, ob Irmgard F. auch so schlafe wie er, nämlich schlecht, wird der aus Österreich angereiste Zeuge später sagen. Für Josef Salomonovic hat die Reise nach Norddeutschland und die Aussage im Gerichtsprozess gegen die frühere KZ-Sekretärin viel Überwindung gekostet.
„Angenehm ist es nicht, von Wien herzukommen gestern", sagt Salomonovic. "Und heute wieder nach Wien zu fliegen. Und sich aufzuregen. Und die Nacht mit einem Schlafpulver zu verbringen. Nicht wegen der Ansprache. Aber überhaupt das aufzuwühlen, ist nicht angenehm. Über diese Sachen spricht man nicht gern.“

Grausame Reise durch die Lager

Nach dem Ende der zweieinhalbstündigen Verhandlung wird er von zwei Dutzend Journalistinnen und Journalisten umringt. Neben ihm sitzen seine Frau und sein Anwalt.
Salomonovic hat schon viele Interviews gegeben und häufig seine Geschichte erzählt, aber noch nie in einem Gerichtsprozess in Deutschland ausgesagt. „Es ist wichtig aus moralischen Gründen", sagt er, "für meinen Vater, für meine Mutter und für meinen Bruder. Meine Frau hat mich überredet – ich wollte nicht!“
In der Verhandlung hat er zuvor Einblick gegeben in die über vier Jahre dauernde, grausame Reise, die er als kleiner Junge erlebt hat: Aus der tschechischen Heimat in Ostmähren ging die Familie zunächst nach Prag, wo sie sich in trügerischer Sicherheit wähnte. Dann folgte die Deportation ins Ghetto von Lodz. Von dort ging es nach Auschwitz. Wie lange er dort war, wisse er nicht ganz genau, sagt Salomonovic. Es seien wohl mehrere Tage gewesen.

Mitarbeit in der Tötungsmaschinerie

Dann kam die Familie im Herbst 1944 nach Stutthof, jenes Konzentrationslager in der Nähe von Danzig, in dem rund 65.000 Menschen ermordet wurden.
Zu diesem Zeitpunkt war Irmgard F. Sekretärin in der Lagerkommandatur – und leistete in Stutthof durch ihre Arbeit einen wichtigen Beitrag, um die Tötungsmaschinerie am Laufen zu halten, so der Vorwurf.
Die 96-jährige Angeklagte Irmgard F. sitzt zu Beginn des Prozesstages im Gerichtssaal. Sie trägt eine Corona-Schutzmaske über Mund und Nase und eine dunkle Sonnenbrille.
Keine Erinnerung an die Verbrechen: Irmgard F. ist wegen Beihilfe zum Mord in über 11.000 Fällen angeklagt.© picture alliance / dpa / Marcus Brandt
Im Prozess vor dem Landgericht Itzehoe muss sich die Angeklagte wegen des Vorwurfs der Beihilfe zum Mord in mehr als 11.000 Fällen verantworten. Doch Irmgard F. will von den grausamen Verbrechen im KZ nichts mitbekommen haben.

„Ich erwarte nicht, dass sie etwas zugeben wird. Ich bin kein Idealist. Ich glaube, sie bleibt bei ihren … 'Unschuld' kann man da nicht sagen, aber als junge Frau, 18, 19 Jahre alt, hat sie das damals so geglaubt, und sie bleibt dabei – so wie die Riefenstahl bis 100 geblieben ist.“

Josef Salomonovic

Eine Stimme für die Opfer

Auch an diesem achten Prozesstag schweigt Irmgard F., doch der Eindruck ist, dass die Angeklagte sehr aufmerksam zuhört.
Ganz am Ende wird Wolf Molkentin – der Pflichtverteidiger der früheren KZ-Sekretärin – Josef Salomonovic seinen Respekt und sein tiefes Mitgefühl aussprechen – und dabei ausdrücklich seine Mandantin einschließen.
Josef Salomonovic hält kurz inne und sagt dann „Danke“. Später wird er vor den Medien sagen: „Sie ist indirekt schuldig. Indirekt. Auch wenn sie nur im Büro gesessen hat und ihren Stempel auf diesen Todesschein von meinem Vater gegeben hat.“
Josef Salomonovic rechnet damit, in Kürze wieder Post zu erhalten. Es werde nicht nur Zuspruch sein, sondern er werde auch Mails und Briefe mit Vorwürfen bekommen: „Es gibt auch Leute, die sagen: Was lässt du die alte Dame nicht in Ruhe? Die ist 95 oder 96, und man schleppt sie herum!“
Er weiß, dass es nur noch wenige Überlebende des Holocaust gibt. Und von diesen scheuten viele die Reise, um in einem Gerichtsprozess auszusagen. Josef Salomonovic hat sich anders entschieden und den Opfern von Stutthof nicht nur ein Gesicht gegeben, sondern auch eine Stimme.
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