Nicolas Mathieu: „Connemara“

Französische Provinz-Melancholie

06:30 Minuten
Das Cover des Buches "Connemara" von Nicolas Mathieu zeigt den Haarschopf einer Frau von hinten. Die Frau blickt in einen runden kleinen Spiegel.
© Hanser Verlag

Nicolas Mathieu

Übersetzt von Lena Müller und André Hansen

ConnemaraHanser Berlin, Berlin 2022

432 Seiten

26,00 Euro

Von Dirk Fuhrig · 28.09.2022
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Träume vom Aufstieg und die Schwermut des Alltags: Nicolas Mathieu feiert die Menschen in seiner Heimatregion Lothringen. Sein neuer Roman spielt auf einen Hit des französischen Chansonsängers Michel Sardou an.
Connemara ist eine Landschaft in Irland, die der französische Sänger Michel Sardou in seinem berühmten Chanson „Les lacs du Connemara“ schwelgerisch besingt. Das Lied ist ein schwermütiger Ohrwurm über die Kargheit der Natur, tiefe, dunkle Seen, heroische Vergangenheit, über Einsamkeit und Sehnsucht. Für sehr viele Franzosen eine grandiose Hymne, für andere bombastischer Kitsch aus dem Mund eines allzu volkstümlichen Sängers - zu dessen Stimme sie trotzdem ekstatisch die Tanzfläche stürmen, sobald der peitschende Rhythmus auf einer Party angespielt wird.
Nicolas Mathieu macht den Gassenhauer zum Leitmotiv in seinem mitreißenden Familien- und Generationen-Panorama. So wie er den Rock-Sound der 80er in seinem mit dem Prix Goncourt ausgezeichneten Roman „Wie später ihre Kinder“ hatte anklingen lassen. Mathieu rückt erneut die Menschen in seiner Heimatregion Lothringen in den Vordergrund. Seine Hauptfiguren Hélène und Christophe gehören seiner eigenen Generation an; der Schriftsteller wurde 1978 in Épinal geboren. 

Aufstieg nach Paris

Hélène wächst in ebendieser Stadt am Fuße der Vogesen auf. Schon als kleines Mädchen empfindet sie die Provinz als eng und bedrückend. Ihr Vater ist Handwerker, die Mutter warnt vor allzu großen Ambitionen: Schuster, bleib bei deinem Leisten, ist ihr Motto. Aus diesem Milieu flieht Hélène. Nach dem Besuch einer Eliteschule wird sie erfolgreiche Beraterin bei einer Consulting-Agentur. Eine Traumkarriere - die sie nach einem Burn-Out teilweise aufgibt. Sie kehrt zurück nach Nancy - auch um ihren beiden Kindern außerhalb von Paris ein entspannteres Aufwachsen zu ermöglichen.

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Hélène begegnet einer Jugendliebe, dem früher schon heimlich angehimmelten Eishockey-Star Christophe. Einst blendend aussehend und gut gebaut, schlägt sich der 40jährige mit ersten Fettpölsterchen, einer gescheiterten Ehe und einem nervigen Job als Handelsvertreter für Tierfutter herum.

Scheitern der Kleinbürger

Dass sich zwischen Hélène und Christophe eine Affäre anbahnt, ist ein wenig überraschendes Element in diesem Roman, der sich gerade dadurch auszeichnet, dass er vorgezeichnete Lebenswege vermeintlicher Durchschnittsexistenzen mit großer analytischer Hellsicht und unendlicher Zuneigung ausleuchtet.
Mathieu interessiert sich für die Träume, Wünsche, das (sexuelle) Begehren, aber auch für die Verletzungen, das Scheitern und die Resignation derjenigen, die oft abschätzig als Provinzler oder „Kleinbürger“ bezeichnet werden. Dem Schriftsteller gelingt es auch hier wieder, die geheimen Gedanken von Pubertierenden, gerade seiner Heldin Hélène, besonders plastisch aufzuschreiben.

Sprache junger Technokraten

Letztlich geht es um das Leben eines großen Teils der Bevölkerung, die sich in ihrem sozialen Status eingerichtet hat. Dem liebevoll, aber nicht nostalgisch geschilderten Provinz-Trott mit üppigen Hochzeitsfeiern, (Männer-)Besäufnissen, endloser Autofahrerei, um die Kinder in die Schule zu bringen und Hassliebe zu den Altvorderen setzt der Autor die phrasenhafte Sprache junger Technokraten entgegen, sie sich für eine neue Elite halten: agile Unternehmensberater, die vom Silicon Valley daherschwafeln und der alles hemmenden französischen Bürokratie die Zöpfe abschneiden wollen.
Mathieu siedelt den Haupt-Erzählstrang unmittelbar vor den Präsidentschaftswahlen 2017 an, als der den Wirtschaftsliberalismus predigende Emmanuel Macron überraschend zum Favoriten aufsteigt und Marine Le Pen erstmals in die Stichwahl gelangt. Diese tagespolitische Dekorierung zählt allerdings zu den uninteressanten Stellen in einem Roman, der auf so mitreißende, detailreiche Weise ein bitter-süßes Lebensgefühl beschreibt, das mit politischen Veränderungen wenig zu tun hat - zu tun haben will.

Atmosphärischer Roman

„Connemara“ ist, wie schon Mathieus frühere Texte, durchzogen von derselben tiefen Melancholie, die auch das gleichnamige Chanson ausstrahlt. Anders als das Lied, überwältigt der Schriftsteller sein Publikum nicht mit Pathos, sondern mit seinem feinen Gespür für die Verästelungen im Gefühlshaushalt der Menschen. „Connemara“ ist ein großer, atmosphärischer Roman über den ängstlichen Kleinbürger in uns allen. 
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