Emma Rothschild: "Eine Hochzeit in der Provinz"

Geschichte anders erzählt

03:08 Minuten
Cover von Emma Rothschilds Studie "Eine Hochzeit in der Provinz".
© wbg Theiss

Emma Rothschild

Aus dem Englischen von Tobias Gabel und Jörn Pinnow

Eine Hochzeit in der Provinz. Die Spuren der Familie Aymard über zwei Jahrhundert europäischer Geschichtewbg Theiss, Darmstadt 2022

496 Seiten

32,00 Euro

Von Edelgard Abenstein  · 01.09.2022
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In ihrer Geschichte einer ganz normalen Familie aus der französischen Provinz beschreibt die Wirtschaftshistorikerin Emma Rothschild den gesellschaftlichen Wandel vom Vorabend der französischen Revolution bis zum Ersten Weltkrieg.
Die Mikrohistorie widmet sich den gewöhnlichen Leuten aus dem „Volk“. Menschen, von denen man wenig weiß, weil sie keine Selbstzeugnisse verfassten, überhaupt nichts Schriftliches hinterließen. Weil aber jeder, egal ob reich oder arm, sich in die Zeugnisse der Bürokratie eingeschrieben hat, stützen sich solche Studien auf diese archivarischen Quellen.
Auch Emma Rothschild arbeitet so in ihrem neuen Buch. Ihre Studie beginnt mit der Witwe Aymard, die 1764 in der kleinen Stadt Angoulême eines ihrer acht Kinder verheiratet. Da die Analphabetin den Kontrakt selbst nicht unterzeichnen kann, bestellt sie 83 „Signatare“ aus ihrem Umfeld, die den Vertrag mit ihrer Unterschrift beglaubigen.
Dieses Dokument bildet die Urzelle einer sich über zwei Jahrhunderte verzweigenden Familienchronik. Rothschild verfolgt die Spuren von deren Nachfahren, die weit über Angoulême hinausführen, durch die Geschichte, die Französische Revolution, den wirtschaftlichen Umschwung nach 1800 bis in den Ersten Weltkrieg.

Listen und gesprächigere Dokumente

Streng hält sie sich an Listen, befragt Steuerverzeichnisse, Militärlisten, Justizakten, Pfarrregister, Notariats- und Verwaltungsunterlagen, Katasterdaten. Dabei enthält sie sich jeder Art von Spekulation. Gesprächigere Dokumente fehlen.
Nur ein paar Briefe gibt es, die Aymards Ur-Ur-Urenkelin um die vorletzte Jahrhundertwende an ihren Bruder Charles schreibt. Der - Missionar in Afrika, katholischer Kardinal, glühender Verfechter der Abschaffung der Sklaverei - ging als einziger aus der Familie in die Geschichtsbücher ein, sieht man von der Pariser Nachfahrin ab, die mit einer Schankwirtschaft, in der Manet, Baudelaire und die Brüder Goncourt verkehrten, eine flüchtige Spur in der Bohème-Geschichte hinterließ.
Indem Rothschild neben der Familie Aymard auch die Unterzeichner des Heiratskontrakts ins Zentrum des Buches stellt, geht sie einer heiligen Kuh der Sozialgeschichte ans Leder, die den zusammenlebenden Familienclan weit über das 18. Jahrhundert hinaus als sozial prägend ansieht.

Differenzierter Beitrag zur Kolonialgeschichte

Auch über das Lokale geht das Buch hinaus. Es ist ein differenzierter Beitrag zur Kolonialgeschichte. Angefangen mit Maries Ehemann, der sich auf der Suche nach wirtschaftlicher Fortune als Händler auf der Insel Grenada verdingte, wo er früh verstarb. Ihr Sohn flüchtete aus Saint-Domingue - heute Haiti – vor den Revolutionswirren mittellos in die alte Heimat.
Andere hatten mehr Glück mit ihren Kontakten nach Übersee, sie bezogen jahrzehntelang eine Revenue aus den Reparationszahlungen, zu denen das befreite Haiti gegenüber Frankreich verurteilt worden war. Die bizarrste Geschichte, die Rothschild aufgetan hat, ist die des freigelassenen Sklaven Louis Felix. Ausgewandert nach Angoulême, stieg er während der Revolution zu einem prominenten Mitglied in der Stadtverwaltung auf, registrierte dort die Geburt des jüngsten Enkels von Marie, des Sohnes des arm-gebliebenen Santo Domingo-Flüchtlings, heiratete die Cousine eines der Signatare und starb hochbetagt in seiner neuen Heimat.

Ein Dschungel von Namen

Neben solch malerischen Aperçus kaut man lesend doch viel Graubrot. So reizvoll die Methode Rothschilds ist, sich überraschen zu lassen von unvorhersehbaren Knotenpunkten, in denen sich die Lebenswege der einzelnen kreuzen, so frustrierend ist es doch, wenn die Personen, weil nirgendwo mehr verbrieft, im Nichts verschwinden.
Auch nimmt mit dem Fortschreiten in der Chronologie naturgemäß das Prinzip der Verzweigung zu, weshalb man in dem Dschungel von Namen leicht den Überblick verliert. Und doch ist es spannend zu erleben, was aus einer Quittung wird, die ein junger Mann aus Rothschilds Personenuniversum auf einem Fetzen Papier abgezeichnet hat, um seinen Sold im Dienst der revolutionären Verwaltung zu bekommen. 
Wie überhaupt die Revolution, das zeigt Rothschild eindrucksvoll, als Job- und Landumverteilungsmaschine fungierte. Für viele bedeutete sie den Aufstieg, im Militär, im Justiz- oder Bankwesen. Der Umschwung durch die Industrialisierung spielte hingegen nahezu keine Rolle - auch wenn der Kontakt zwischen Angoulême und der Welt durch keine Schiffsreise so belebt wurde wie durch die Eisenbahn, seit sie zum ersten Mal 1852 in das Städtchen eingefahren war.
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