Camille Laurens: "Es ist ein Mädchen"

Für den Vater nur zweite Wahl

05:48 Minuten
Auf dem Cover ist die Illustration einer Frau vor rotem Hintergrund zu sehen. Die Frau trägt einen Pferdeschwanz und blickt in den Bildhintergrund. Ihr Gesicht ist nicht zu sehen.
© dtv

Camille Laurens

Aus dem Französischen von Lis Künzli

Es ist ein Mädchendtv, München 2022

256 Seiten

22,00 Euro

Von Rainer Moritz · 30.06.2022
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Die Erzählerin des Romans blickt in die 60er-Jahre zurück, als auch im bürgerlichen Bildungsmilieu ein Mädchen weniger als ein Junge wert war. Doch ihr Blick auf diese patriarchale Umwelt wird schärfer, und die eigene Tochter wird davon profitieren.
Es ist höchste Zeit, diese Autorin hierzulande zu entdecken. Während die 1957 in Dijon geborene Camille Laurens in Frankreich seit Langem eine feste Größe der Literaturszene ist, 2020 zum Mitglied der Académie Goncourt gewählt wurde und ein umfangreiches Werk von Romanen und Essays aufweist, konnte sie sich im deutschsprachigen Raum bislang nicht etablieren.
Zwei vor knapp 20 Jahren erschienene Übersetzungen fanden wenig Resonanz. Mit ihrem aktuellen Roman „Es ist ein Mädchen“ könnte und sollte das anders werden.
Die Erzählerin Laurence Barraqué, zwei Jahre jünger als ihre Autorin, blickt auf ihr Leben und ihr früheres Ich, das sie mit „Du“ anspricht, zurück. Von Anfang ist ihre Kindheit in Rouen von der Enttäuschung geprägt, die sie ihrem Vater Jean-Mathieu, einem Arzt, bereitet.
„Es ist ein Mädchen“ lautet der (deutsche) Titel und der erste Satz des Romans – ein von der Hebamme ausgerufener Satz, der die Hoffnung des Vaters auf einen Stammhalter im Keim erstickt. „Fille“, so der französische Originaltitel, spiegelt dabei in seiner Doppeldeutigkeit von „Tochter“ und „Mädchen“ eine sprachliche „Ungerechtigkeit“ wider, die das Deutsche nicht adäquat wiedergeben kann.

Missbrauch wird unter den Teppich gekehrt

Camille Laurens’ Roman blendet auf die 60er-Jahre zurück, als man Mädchen selbst in bürgerlichen Bildungsmilieus oft als „zweite Wahl“ ansah, sie in vorgeprägte Geschlechterrollen zwängte und permanent zurückwies. Je älter Laurence wird, desto schärfer gerät ihr Blick auf diese patriarchale Welt, in der Missbrauch – Onkel Gaëlle vergeht sich an ihr, als sei das eine Selbstverständlichkeit – unter den Teppich gekehrt und allenfalls innerhalb der Familie thematisiert wird.
Immer ist die Reflexion darüber begleitet von Beobachtungen, wie sich Abhängigkeit und Unterdrückung in der Sprache wiederfinden: „Man sagt: ‚Sei ein Mann‘. Man sagt nie: ‚Sei eine Frau‘“.

Beklemmende Lektüre

Laurence sinniert so über die Bezeichnungen für die weiblichen Geschlechtsorgane oder tabuisierten Themen wie Menstruation und Masturbation nach, erfährt, wie ihr Vater Ballettunterricht als „Effeminierung“ schmäht, und wie schwer es für Mädchen und junge Frauen ist, sich zu aus dem Herkömmlichen fallenden Sexualfantasien zu bekennen.
„Es ist ein Mädchen“ ist ein Roman, der nur auf den ersten Blick von einer vergangenen, uns scheinbar kaum berührenden Epoche erzählt. Seine Drastik – etwa als Laurence aufgrund des Dilettantismus eines von ihrem Vater protegierten Gynäkologen eine Totgeburt erleidet – macht dieses Buch zu einer beklemmenden, aufwühlenden Lektüre.
In großen Zeitsprüngen sehen wir Laurence am Ende als Mutter eines Mädchens, das ganz andere Lebensmöglichkeiten erhält – ein Zeichen des Fortschritts.

"Reales" und "fiktives" Leben verschränkt

Camille Laurens gilt, ehe der Begriff zu einer Modevokabel wurde, als Meisterin der „Autofiktion“. Etliche der in „Es ist ein Mädchen“ ausgebreiteten Themen und Episoden wurden bereits in ihren früheren Werken verhandelt. In ihrem neuen Buch versteht sie es überzeugend, „reales“ und „fiktives“ Leben kunstvoll miteinander zu verschränken und aus aktuellen Debatten um Geschlechterzuordnung und Geschlechteridentität Literatur zu machen.

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