Wenn uns in einem Roman eine Lebensgeschichte erzählt wird, dann muss diese nicht wahr sein. Das ist bekannt. Anders verhält es sich mit Biografien oder Memoiren, von denen Lesende ganz zu Recht erwarten, dass das darin Berichtete stimmt. Die 100-jährige Hauptfigur des neuen Romans von Michael Köhlmeier, die berühmte russische Architektin Anouk Perleman-Jacob, entzieht sich dieser Forderung auf geschickte Weise. Ganz gezielt bittet sie einen Schriftsteller, den Ich-Erzähler des Romans nämlich, von dem sie weiß, dass er gelegentlich zu Schwindeleien neigt, all das zu erzählen, was sie ihren bisherigen Biografen verschwiegen hat:
„Ich habe mich über Sie erkundigt. Sie haben einen guten Ruf als Schriftsteller, aber auch einen etwas windigen. Ich weiß, dass Sie Dinge erfinden und dann behaupten, sie seien wahr. Jeder wisse das, hat man mir gesagt, aber immer wieder gelinge es Ihnen, Ihre Leser und Zuhörer hinters Licht zu führen. Deshalb glaube man Ihnen oftmals nicht, wenn Sie die Wahrheit schreiben, und glaube Ihnen, wenn Sie schummeln. Stimmt das?“
Lakonisch und zugleich fesselnd erzählt
Das Arrangement zwischen der alten Dame und dem namenlos bleibenden Schriftsteller kommt zustande. Was dann folgt, sind nicht nur die lakonisch und zugleich fesselnd erzählten Erinnerungen Anouk Perleman-Jacobs, ergänzt durch die Recherchen ihres Protokollanten, es ist auch ein Stück reale europäische Geschichte von erstaunlicher Aktualität.
Die Architektin erzählt davon, wie sie, ihre jüdischen Eltern und insgesamt rund 200 andere Vertreter der russischen Intelligenz – Ärzte, Professoren oder Ingenieure – 1922 per Schiff aus Russland ausgewiesen wurden, auf Betreiben von Lenin höchstpersönlich. Man hielt sie für störende Elemente, an deren Ermordung man sich aber nicht die Finger schmutzig machen wollte. Also wurden sie auf Dampfern nach Westeuropa, zumeist nach Deutschland, verbracht.
Unheilvolle Parallele zum heutigen Russland
Diese sogenannten Philosophenschiffe gab es tatsächlich, und sie sind eine unheilvolle Parallele zu dem, was sich genau 100 Jahre später im heutigen Russland abgespielt hat. Dort nämlich hat bereits im April 2022 und noch einmal nach der Mobilmachung im folgenden Herbst eine große Menge Menschen, vor allem die besonders gut Ausgebildeten, das Land infolge des Angriffskriegs auf die Ukraine verlassen, weil sie unter den zunehmenden Repressionen nicht mehr leben wollten.
Im angeregten Plauderton nimmt uns die gewitzte alte Dame mit auf diese groteske, gespenstische Schiffsreise. Und ihren fantasievollen Schreiber führt sie dabei selbst an der Nase herum, indem sie manches verdreht oder verschweigt. Schon am zweiten Tag kommt es aber zu einem unerwarteten Halt. Ein zusätzlicher Passagier wird an Bord gebracht, den nur die 14-jährige Anouk entdeckt und in den folgenden Tagen immer wieder heimlich besucht. Es ist Lenin selbst, nach einem Attentat und mehreren Schlaganfällen gesundheitlich schwer gezeichnet und im Rollstuhl.
„Sehr freundlich war er nicht, der kranke Mann. Auch zu mir nicht. Er war von Natur kein freundlicher Mensch. Zu einem freundlichen Menschen gehört, dass er manchmal lacht oder wenigstens lächelt, auch wenn nichts Lustiges vorliegt. Da bist du ja, sagte er. Sonst nichts. Obwohl er es immer wieder sagte und sogar betonte, er warte den ganzen Tag darauf, mich am Abend zu sehen. Und dann einfach nur: Da bist du ja. Er hat mir seinen Nachtisch aufgehoben. Das war seine Freundlichkeit. Saure Milch mit gehackten Feigen, Datteln, Rosinen und Melasse.“
Hohe erzählerische Kunst
Nicht nur die Philosophenschiffe, sondern auch viele der Figuren in diesem Roman sind historisch. Dass aber Lenin auf ein solches Schiff gebracht wurde, ist eine der Schwindeleien, die nun Köhlmeier selbst sich ausgedacht hat. Die Begründung dafür liefert er am Schluss, mit einem Clou, von dem an dieser Stelle nur verraten sei, dass es sich um einen weiteren der zahlreichen politischen Terrorakte des Romans handelt.
Es ist eine hohe erzählerische Kunst, mit der Köhlmeier hier einmal mehr die wahren, historisch belegten Begebenheiten um gerade solche fiktionalen Details bereichert, die uns Geschichte erst verständlich zu machen scheinen. Man nimmt sie gerne hin, diese Ironisierungen und Retuschen der Historie, denn das größte Leid bringen doch gerade diejenigen über die Weltgeschichte, die sie auf fatale Weise allzu ernst nehmen – wie der aktuelle Herrscher im Kreml.
Den besten Nachweis seiner literarischen Kraft liefert Köhlmeier aber mit seiner Hauptfigur, der 100-jährigen Anouk Perleman-Jacob, deren Lebenserzählung man liest, als würde man ihr leibhaftig lauschen, mit allen Unterbrechungen, Abschweifungen und mit ihrer direkten, geistvollen Art. Die letzten Worte überlässt der Rezensent deshalb gerne dieser beeindruckenden Grande Dame.
„Nun ist meine Geschichte zu Ende. Den Rest können Sie sich zusammenreimen aus den Stücken, die ich Ihnen bereits erzählt habe. Wenn Ihnen das nicht genügt, fragen Sie Alice, sie gibt Ihnen gern Auskunft. Aber vergessen Sie nicht, wer Sie sind: Sie sind der, dem man glaubt, wenn er lügt, und nicht glaubt, wenn er die Wahrheit sagt.“
Michael Köhlmeier: „Das Philosophenschiff“. München: Hanser 2024. 221 Seiten, 24 Euro.