Michael Köhlmeier: "Bruder und Schwester Lenobel"

Alte Verletzungen in neuen Leben

Verletzungen setzen sich fort wie ein Virus: Michael Köhlmeiers Roman "Bruder und Schwester Lenobel" sucht die Annäherung an den Kern der Existenz.
Michael Köhlmeiers Roman "Bruder und Schwester Lenobel" sucht die Annäherung an den Kern der Existenz. © Imago/Photocase; Hanser
Von Verena Auffermann · 17.08.2018
Ein Mann macht sich davon, die Ehefrau verzweifelt. Wie in den Märchen und Mythen steckt hinter dieser Konstellation ein ganzer Kosmos aus Abhängigkeiten und Verletzungen, denen Michael Köhlmeier in "Bruder und Schwester Lenobel" kunstvoll auf den Grund geht.
Der neue Roman von Michael Köhlmeier ist in 13 Kapitel unterteilt. Jedes Kapitel beginnt mit einem Märchen. Jedes, mehr oder weniger grausam, schärft die Aufmerksamkeit auf die Tücken privaten Lebens. Auf Verführungen, die verfehlte oder gefundene Liebe, auf Freundschaften, auf das Göttliche, die Religion und den Ballast, den Eltern und Großeltern ihren Kindern und Kindeskindern mitgeben.
Köhlmeiers "Bruder und Schwester Lenobel" ist nach "Abendland" (2007) und "Die Abenteuer des Joel Spazierer" (2013) sein dritter gewichtiger Roman. Im stillen Zentrum steht wieder der Schriftsteller. Lukasser ist in "Bruder und Schwester Lenobel" zum ersten Mal aktiver Teil der Handlung. Er ist der Freund Robert Lenobels, bekannter Wiener Psychotherapeut, verheiratet mit der Buchhändlerin Hanna, Vater von zwei Kindern.
Lukasser wird nicht nur versuchen, seinem in eine leidenschaftliche Affäre mit der Künstlerin Bess verwickelten Freund Robert beizustehen. Robert ist, als ihm alles zu verworren wurde, aus seinem gewohnten Leben verschwunden und sucht in Jerusalem nach den Wurzeln seiner jüdischen Herkunft. Lukasser beruhigt die verzweifelte Ehefrau: "Robert hat einen Gott, und den besucht er gerade".

Von den Folgen des Holocaust

Der an Märchen, Mythen, Sagen trainierte lustvolle Erzähler Michael Köhlmeier erzählt diesmal nicht nur eine Lebensgeschichte wie im "Abendland" oder durchleuchtet Wurzel und Struktur eines lügenhaften Charakters, wie in "Die Abenteuer des Joel Spazierer". In "Bruder und Schwester Leonobel" erforscht er ein von den Folgen des Holocaust durchsetztes Familiensystem, die Dynamik von Tradition und Religion.
Verletzungen setzen sich wie ein Virus fort und steuern die Energie-, Liebes- und Bindungsfähigkeit im Leben der Nachfahren. Dieses bekannte Drama belässt der Autor im Hintergrund, im Vordergrund spielt sich die manchmal klischeehafte Geschichte vom privat unerlösten Psychotherapeuten Robert ab, der lieber seinen Patienten zuhört als seiner Frau. Gegenfigur zum suchenden Robert ist seine Schwester Jetti, ein flirrend charmantes Wesen, dem alles zufällt.
Michael Köhlmeier entwickelt das komplexe Geflecht der Beziehungen und Abhängigkeiten aus dem Schock, den Hanna durch das Verschwinden Roberts erleidet. Seine erzählerische Raffinesse, der mitreißende Erzählfluss, die intelligenten Verflechtungen, Querverweise und Erkenntnisse drehen sich um die Offenlegung der Selbstlüge (ein Hauptthema des Autors) - und um die Schwierigkeit zu erkennen, was die Liebe zum Anderen eigentlich ist. Das zweite Herzstück des Romans ist die Frage nach Gott. Michael Köhlmeier erzählt in "Bruder und Schwester Lenobel" über nichts Geringeres als die Annäherung an den Kern der Existenz.

Michael Köhlmeier: Bruder und Schwester Lenobel
Hanser Verlag 2018, 540 Seiten, 26 Euro

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