Elektronische Musik aus Deutschland

Aus den Trümmern zu den Sternen

Kraftwerk in einm Gruppenporträt von 1978.
Waren weltweit in den Charts und landeten den ersten Nummer-eins-Hit einer deutschen Band in Großbritannien überhaupt: Kraftwerk. © Getty Images / Redferns / Fröhling
Von Tom Noga und Steffen Irlinger · 19.03.2022
Vorboten des digitalen Zeitalters: In den 1970ern werden Kraftwerk zur Speerspitze einer neuen musikalischen Bewegung. Auch andere deutsche Bands experimentieren in dieser Zeit mit Elektro-Klängen: ein Blick in die Geschichte der elektronischen Musik.
„Kraftwerk waren die ersten, die gesagt haben: Wir wollen keinen kleinen Sound-Effekt. Wir konzentrierten uns auf eine rein synthetische Musik“, erinnert sich Westbam, der Techno in den 1990er-Jahren in Deutschland populär gemacht hat.
„Wir sind die Roboter“, bringen es Kraftwerk auf den Punkt. Der Song enthält alles, was die Band ausgemacht hat. Musikalisch einen mechanischen, tanzbaren Beat, den verzerrten Gesang, eine vordergründig naive Melodie und einen scheinbar noch naiveren Text.
Kraftwerk beim Live-Konzert während des dänischen Musikfestivals Haven Festival 2018 in Kopenhagen. Im Hintergrund der Band ist ein riesiger altmodischer Computer visualisiert.
Kraftwerk-Auftritt beim Hafen Festival in Kopenhagen 2018.© imago / Gonzales Photo / Christian Hjorth
Konzeptionell tritt die Band hinter ihre Musik zurück. Dazu passt, dass Kraftwerk uniform auftreten: Stoffhose, Hemd, Krawatte, die Haare kurz und geschniegelt. Die vier Musiker sehen aus wie Buchhalter, die an Stehpulten auf der Bühne ihrer Arbeit nachgehen: emotionslos, kühl. Ohne einen Tropfen Schweiß zu vergießen.
Popjournalist Max Dax fasst das so zusammen: „Kraftwerk haben Musik nicht nur als Jam oder Musikmachen begriffen, sondern sie haben versucht, die Welt zu erfassen und das in Musik und Texte zu fassen. Sie haben nicht alles dekonstruiert, nur weil sie neue technische Möglichkeiten, neue Instrumente zur Verfügung hatten, sondern sie haben bei aller Innovation trotzdem Popsongs geschrieben.“

Ausdruck musikalischer Revolte

Irmin Schmidt von der Kölner Band Can: „Woher das rührte? Vielleicht lag es daran, dass diese Generation, jetzt rede ich über mich, aufgewachsen ist mit den Folgen oder sogar noch mit dem Erlebnis des Krieges und der Nazi-Zeit. Und wenn nicht gerade mit dieser Zeit und wir noch Kleinkinder waren, dann zumindest mit Eltern, die dem so verhaftet waren, dass man dagegen etwas tun musste. Und es wurde etwas getan, denken Sie an diese ganze Bewegung gegen den Vietnamkrieg. Also eine Jugend, die mit dem Schluss machen wollte, die berühmten 68er.“

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Eberhard Kranemann ist Gründungsmitglied von Kraftwerk. Die Ursprünge der Band gehen zurück auf Auftritte von Kranemann in der legendären Düsseldorfer Künstlerkneipe Creamcheese. Kranemanns Band hieß Piss Off und bestand aus Studenten der Kunstakademie, aus der Meisterklasse des Aktionskünstlers Joseph Beuys.

Die Piss-Off-Musik war keine Musik, sondern das war Krach. Lärm, Anti-Musik. Das war 1968, Studentenrevolution, und das war gegen die Normen. Wir wollten das auflösen. Wir wollten das System auflösen. Die anderen Leute wie Rudi Dutschke, die haben Steine genommen, haben die auf die Polizei geschmissen. Das haben wir nicht gemacht, wir waren zu feige dazu. Was wir aber konnten: Wir haben akustische Steine geschmissen, also kulturell zersetzt, das System aufgelöst.

Eberhard Kranemann, Gründungsmitglied von Kraftwerk

Wir schreiben das Jahr 1969, zwei Jahre nach dem „Summer of Love“ in San Francisco, dem Höhepunkt der Hippie-Bewegung. Zwei Jahre nach den tödlichen Schüssen auf den Studenten Benno Ohnesorg am Rande einer Demonstration gegen den Staatsbesuch des Schahs von Persien, eines autokratischen Herrschers.
Durch den Tod Ohnesorgs breitete sich die ursprünglich auf Berlin beschränkte Studentenbewegung bundesweit aus. Es liegt Revolution in der Luft: politisch, kulturell, sexuell.
In Düsseldorf ist die Kunstakademie um die Professoren Joseph Beuys und Gerhard Richter der Kristallisationspunkt eines neuen kulturellen Bewusstseins.

Vorboten des digitalen Zeitalters

Mit „Autobahn“ beginnt Kraftwerks kommerziell erfolgreichste Phase. Von 1977 bis 1986 bringt die Band fünf Alben heraus. Alle kommen weltweit in die Charts. Und mit der englischen Version von „Das Model“ landet Kraftwerk einen Nummer-eins-Hit in Großbritannien - als erste deutsche Band überhaupt. Der Song ist ein Wendepunkt für Kraftwerk. Musikalisch, weil er tanzbar ist - nicht nur in Rock-Discos.
Kraftwerk beim Live-Auftritt zu Ihrer Retrospektive in der Londoner Tate Modern. Im Hintergrund ist eine Visualisierung der deutschen Autobahn mit VW Käfer zu sehen.
Kraftwerk beim Live-Auftritt zu Ihrer Retrospektive in der Londoner Tate Modern 2013.© Getty Images / Redferns / Jim Dyson
Mehr und mehr arbeiten Kraftwerk mit selbstgebauten Instrumenten. Mehr und mehr treten die einzelnen Personen hinter das Kollektiv zurück. Die Kraftwerker sind stets uniform gekleidet, gleichen sich optisch immer mehr an und wirken mit ihren sparsamen, eckigen Bewegungen wie Roboter. Die sie dann auch werden, zumindest auf der Bühne, wenn statt ihnen tatsächlich Roboter die Songs spielen. Ein Gag zwar, aber einer, der weit ins digitale Zeitalter weist.

Pioniere der neuen Musik

Bandmaschinen gibt es seit Anfang der 50er-Jahre. Die ersten Geräte hatten nur zwei Spuren: Auf der einen wurde der Gesang aufgenommen, auf der anderen alle Instrumente. Alles musste gleichzeitig, quasi live, eingespielt werden.
In den 60er-Jahren kamen Vierspur- und später Achtspur-Recorder auf den Markt. Für aufwändige Produktionen wurden mehrere dieser Geräte hintereinander geschaltet.
Historische sw-Aufnahme von Kraftwerk im Studio 1972.
Kraftwerk bei Aufnahmen im Studio 1972. © Getty Images / Redferns / Gems
In einer Dokumentation über „Sergeant Pepper’s Lonely Hearts Club Band“, das bahnbrechende Konzeptalbum der Beatles, wird gezeigt, wie das ging. Die Bänder liefen von einem Recorder zum nächsten, teils in andere Studios und über mehrere Stockwerke. Das war weit entfernt von der digitalen Schnitt- und Aufnahmetechnik des 21. Jahrhunderts mit theoretisch unendlich vielen Aufnahmespuren und der Möglichkeit, externe Sounds per Mouse-Click einzufügen.
„Er hatte einen Schwebungssummer, das heißt, so einen großen Metallkasten mit einem Rad, wo man Frequenzen anwählen und auch nahtlose Frequenzübergänge mit reinen Sinustönen kreuzen konnte. Dann hatte er zwei Filter, einen Tiefpass und einen Hochpass. Und er hatte einen Verstärker, um die Sinustöne zu verzerren, was in diesem Fall Obertöne erzeugt hat. Das waren seine Tools, um elektronische Musik zu machen“, sagt der Jazz-Musiker und Komponist Markus Stockhausen über seinen Vater Karlheinz Stockhausen.
Portrait des Komponisten Karlheinz Stockhausen mit brennender Zigarette bei einer Veranstaltung 1974 in Paris.
Karlheinz Stockhausen bei einem Auftritt 1974. © imago / Philippe Gras
Oskar Sala war ein weiterer Pionier der elektronischen Musik. Für Deutschland kann man sagen: der Pionier. Er entwickelte das erste rein elektronische Instrument: das Mixturtrautonium, eine Art Vorläufer des Synthesizers.
Sala hat bis ins hohe Alter Soundtracks für Industriefilme komponiert und eingespielt. In den 60er-Jahren war er auch in der Werbung und vor allem beim Spielfilm sehr gefragt. Er hat unter anderem den Soundtrack für Alfred Hitchcocks „Die Vögel“ komponiert, eine Folge der damals populären Reihe über den Superverbrecher Dr. Mabuse vertont und etliche Verfilmungen der Kriminalromane von Edgar Wallace.

Tangerine Dream

Tangerine Dream sind neben Kraftwerk und Can die kommerziell erfolgreichste Band der deutschen Elektronikszene. Im Wesentlichen ist Tangerine Dream das Projekt des Berliner Musikers Edgar Froese. Er gründet die Band 1968 und ist nach mehreren Personalwechseln bis zu seinem Tod 2015 das einzig verbliebene Gründungsmitglied.
An „Electronic Meditation“, dem ersten Album der Band aus dem Jahr 1971, sind zwei Musiker beteiligt, die nach dem Album aussteigen und ihre eigenen Bands gründen werden: Klaus Schulze und Conrad Schnitzler.

Auch über den Tod von Froese hinaus machen Tangerine Dream Musik. Vor kurzem ist das neue Album "Raum" erschienen. Darüber haben wir mit Thorsten Quaeschning von Tangerine Dream gesprochen.

Später wird das Album „Phaedra“ ein großer Erfolg. Tangerine Dream ist nach Kraftwerk die zweite deutsche Band, die mit elektronischer Klängen international reüssiert. 1976 wird der amerikanische Regisseur William Friedkin auf die Band aufmerksam und ebnet ihr den Weg nach Hollywood.
Dort entstehen in der Folge zahlreiche Soundtracks - was Edgar Froese ein zweites Standbein beschert. Tangerine Dream gilt als Aushängeschild der Berliner Schule. Deren Musik ist geprägt durch lange Stücke, sich wiederholende, dabei aber kontinuierlich modifizierte Strukturen, sphärische Flächen, hypnotische Rhythmen und ausgeprägte Soli. Ursprünglich wurde dieser Sound als Kosmische Musik bezeichnet.


„Berliner Schule“ – Ort der Inspiration

Während in der neueren Musikgeschichtsschreibung wie selbstverständlich von einer Berliner Schule die Rede ist, hat sich so etwas wie ein verbindlicher Oberbegriff für die Düsseldorfer Bands der mittleren Siebziger nie etabliert. Eine Düsseldorfer Schule gibt es nicht. Zu unterschiedlich waren die Bands, ein erkennbarer Düsseldorfer Stil ist nur schwer auszumachen.
Wenn von Düsseldorf als Musikstadt die Rede ist, dann redet man hauptsächlich von Kraftwerk. Deren kommerzieller Erfolg war Fluch und Segen zugleich und überschattete alles. In Berlin hingegen steht die Jam-Session im Vordergrund.
Berlin ist Mitte der 1970er der Fluchtpunkt der internationalen Musikbohème. Neben dem bekanntesten Berliner Expat, dem englischen Superstar David Bowie und dessen Freund Iggy Pop, kommt 1976 auch der englische Musiker und Produzent Brian Eno nach Deutschland. Anstatt nach Berlin – der Ort, an den alle wollen – verschlägt es ihn erstmal nach Forst im Weserbergland, wo Hans Joachim Roedelius auf einem Bauernhof lebt. Mit Dieter Möbius und Michael Rother entsteht dort das gemeinsame Projekt Harmonia.
Wie auch immer man Ereignisse, Künstler und Bands und die Querverbindungen untereinander im Einzelfall bewertet, eines steht fest: Die Musik der deutschen Elektronikpioniere der frühen 1970er hat sich als revolutionäre Kraftquelle in die moderne Popgeschichte eingeschrieben.
Die deutsche Elektronik hat nicht nur Zeitgenossen wie Brian Eno und David Bowie inspiriert, sondern wirkt in vielen kleinen und großen Wellen bis heute nach. Der ab Mitte der 1980er vor allem in Detroit entwickelte Techno, bis heute eine der prägenden Stile der Clubmusik, ist ohne die Vorarbeit von Kraftwerk oder Klaus Schulze kaum vorstellbar. Frühe HipHop-Stücke verwendeten Samples von Kraftwerk. Synthie-Pop-Bands wie OMD oder Depeche Mode verdanken ihren Erfolg bis zu einem gewissen Grad der Vorarbeit von Tangerine Dream und Kraftwerk.

Im Kunstpalast in Düsseldorf läuft noch bis Mitte Mai die Ausstellung: "Electro. Von Kraftwerk bis Techno". Unsere Besprechung finden Sie hier.

Eine Produktion von Deutschlandfunk/Deutschlandfunk Kultur 2022. Das Skript zur Sendung finden Sie hier.
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