Nach der Erschießung Benno Ohnesorgs 1967

Die panische Angst vor der Staatsgewalt

Von Arno Orzessek · 13.03.2019
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Am 2. Juni 1967 wurde der demonstrierende Student Benno Ohnesorg von einem West-Berliner Polizisten erschossen. Viele fürchteten nun einen erneuten Staatsterror wie zur NS-Zeit. Aus heutiger Sicht eine hysterische Angst, meint Arno Orzessek.
Zwei Tage nach Benno Ohnesorgs Tod brachten Unbekannte in Berlin-Charlottenburg am Gedenkstein für die Opfer des Nationalsozialismus eine Tafel an: "Nationalsozialistischer Polizeiterror in Berlin 1933-1945 und seit dem 2. Juni 1967 wieder in Berlin." Noch härter verurteilte Sebastian Haffner die Vorkommnisse. Der Journalist und Schriftsteller behauptete im "Stern": "Was sich in der Berliner Blutnacht ereignet hat, (…) war ein systematischer, kaltblütig geplanter Pogrom."
Laut Haffner hatten sich "Greuel abgespielt, wie sie außerhalb der Konzentrationslager selbst im Dritten Reich Ausnahmeerscheinungen gewesen sind". Er unterstellte, dass Heinrich Albertz, der Regierende Bürgermeister von Berlin, in seiner Methodik dem NS-Propagandaminister Josef Goebbels folge. Die Überschrift des "Stern"-Artikels – "Die Nacht der langen Knüppel" – spielte auf den sogenannten Röhm-Putsch an, die Ermordung der SA-Führungskräfte durch die Nationalsozialisten unter Hitler in der "Nacht der langen Messer" 1934.

NS-Methoden – das waren 1967 Vergleichspunkte

Bundespräsident Heinrich Lübke, ein CDU-Politiker, sah die protestierenden Studenten weit mehr in der Verantwortung als die Polizei, aber auch er fühlte sich an die Zeit erinnert, "als Hitler unter Missbrauch der demokratischen Freiheiten die Weimarer Republik zerschlug". Die Machtergreifung '33, die Pogromnacht von '38, NS-Methoden und NS-Gräuel: Das waren 1967 Vergleichspunkte, die scheinbar keiner weiteren Erklärung oder Rechtfertigung bedurften. Und warum?
Angelehnt an William Faulkner ließe sich sagen: Die NS-Vergangenheit war nicht tot, sie war noch nicht einmal vergangen. Sie war im Bewusstsein derer, die das NS-Regime am eigenen Leib erlebt hatten, aber auch unter Nachgeborenen des linken Spektrums offenbar auf traumatische Weise lebendig. Ob es neben individuellen auch kollektive Traumata gibt, ist umstritten. Die Reaktionen auf die Erschießung Benno Ohnesorgs sprechen indessen eher dafür als dagegen. Denn die extreme Angespanntheit damaliger Beobachter wie Sebastian Haffner, ihr Entsetzen, ihre Wut, ihre Ohnmacht – sie weisen auf massiv verstörende, bis dato unverarbeitete Ereignisse zurück.


Und mehr noch: Traumatisierte erleben oft einen Konflikt zwischen dem Wunsch, schreckliche Ereignisse zu verleugnen, und dem gegenteiligen Wunsch, sie auszusprechen. In der unmittelbaren Nachkriegszeit wurde die Nazi-Katastrophe von vielen beschwiegen. Hannah Arendt attestierte den Deutschen 1949 schlicht "Gefühlsmangel" und "Herzlosigkeit".
1967 aber schlug das Pendel zurück. Die vergangene Katastrophe wurde als Blaupause einer akut drohenden genommen; das alte Trauma schien ein neues vorzubereiten, als gäbe es eine historische Kontinuität des Schreckens. Im Rückblick erscheint die Gleichsetzung der Juni-Ereignisse von 1967 mit den dunkelsten Daten und Taten deutscher Geschichte unsachlich und alarmistisch, geradezu hysterisch.
2. Juni 1967 Benno Ohnesorg, der bei einer Demonstration anlässlich des Berlin-Besuchs des Persischen Kaiserpaares von Karl-Heinz Kurras erschossen wurde, wird weggetragen.
Der Student Benno Ohnesorg wurde am 2. Juni 1967 bei einer Demonstration anlässlich des Berlin-Besuchs des Persischen Kaiserpaares von Karl-Heinz Kurras erschossen.© dpa/AP/Herr

Die BRD war ein recht solider Verfassungsstaat

Denn heute ist erkennbar: Die junge Bundesrepublik hatte sich bereits als recht solider Verfassungsstaat etabliert. Ihr drohte wegen der Studenten-Unruhen und der rabiaten Polizei-Einsätze weder das Schicksal der späten Weimarer Republik noch das rasche Abgleiten in braunen Terror.
Aber das ist eben unser Blick. Wir achten auf andere Gefahren als damals, wie sich an den sogenannten Nazi-Vergleichen ablesen lässt. Wer heute einen solchen Vergleich zieht, wird reflexhaft bezichtigt, unvergleichliche Untaten zu relativieren. Die Sorge gilt zumeist nicht der Wiederkehr der Vergangenheit, sondern deren Verharmlosung.1967 indessen existierte der Begriff "Nazi-Vergleich" noch gar nicht. Die grellen Reaktionen der Kassandra-Rufer resultierten aus dem Alpdruck, der seit '33 auf ihnen lastete.
Friederike Dollinger, eine Kommilitonin von Benno Ohnesorg, hat über den 2. Juni 1967 gesagt: "Ich dachte, ich schaue dem Faschismus ins Gesicht…" Ein Satz, der unmissverständlich ausdrückt: Die Besorgten, Wütenden und Verängstigten hatten damals nicht nur den Eindruck, die Geschichte könnte sich wiederholen. Nein, sie hatten vielmehr das Gefühl: Die Geschichte ist noch gar nicht vorbei; die Gewalt der jüngeren Vergangenheit und die gegenwärtige Gewalt sind untrennbar miteinander verbunden.
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